Leseprobe: Herztattoo

Kapitel 35

Cilian

Vor Cilian ragte eine Altbauvilla aus einem Meer aus Grün hervor. Sein erster Gedanke war es, falsch abgebogen zu sein. Er hatte sogar angehalten, um die Adresse zu checken, die Grischa ihm per WhatsApp geschickt hatte. Aber sie stimmte. Daran gewöhn ich mich nicht, dachte er und seufzte leise. Reichtum hatte sich immer in Edwards Dimensionen bewegt. Dort, wo man es auch sah. Trug sein Chef doch sehr teure Marken und ging verflucht überteuert essen. Aber Grischa? Dem sieht man die Kohle nicht an, die er auf dem Konto hat.
Cilian wendete in einer Einfahrt, als er an dem Haus vorbeigescheppert war, in dem Grischa ihn treffen wollte. Der Blinker klickte leise, als er auf das Grundstück einbog und den Golf 1 hinter dem mächtigen schwarzen Monster von Camaro abstellte.
Der Tätowierer saß auf einem Vermögen, das jeden Cent, den Edward auf dem Konto hatte, wie einen Witz aussehen ließ. Das Haus, vor dem Cilian stand, unterstrich diesen Eindruck zusätzlich.
Der Garten war gepflegt – die Anwesenheit eines Gärtners war unübersehbar. Kein Laub lag auf der Rasenfläche, der Kies, auf dem er stand, schien erst frisch geharkt zu sein und die Sträucher waren für den Winter zurückgeschnitten oder für den ersten Frost gut eingepackt.
Cilian zögerte. Die Schlüssel in seiner Hand klirrten, als er damit zu spielen begann. Sein Blick glitt an dem mächtigen Bau hinauf. Die hellblaue Farbe war neu. Wahrscheinlich erst dieses Jahr gestrichen. Nicht ein bisschen Grün oder andere Zeichen der Verwitterung waren zu sehen. Rahmen und Türen leuchteten in einem frischen Weiß. Kerzenleuchter, Gardinen und sogar Zimmerpflanzen vor den Fenstern schenkte dem Haus einen bewohnten Charakter. Alles hier schreit Geld.
Cilian sah auf seinen Golf zurück und fasste die Schlüssel fester. Er setzte sich in Bewegung, folgte dem Kiesweg bis zum Haus und bleib vor der breiten, halbrunden Treppe stehen. Dort, wo die Kiesauffahrt endete, führte ein hellgrau gepflasterter Pfad weiter auf das Grundstück. Garage, schoss es ihm durch den Kopf.
Er stieg die halbrunden Treppen hinauf und ließ seinen Blick an den Säulen hinaufwandern, die das Vordach und gleichzeitig den darüber gelegenen Balkon stützten. Cilian kannte die Dimensionen, in denen sich eine kleine Villa in dieser Gegend bewegte. Edward dachte vor Jahren darüber nach, die Neubauhaushälfte gegen ein Haus in Blankenese zu tauschen. Und obwohl die Mittel dafür dagewesen wären, haben sie sich von ihrem Heim nicht trennen können. Dabei habe ich ihn und seine Frau zu unzähligen Besichtigungen begleitet.
Unsicher hob er den Finger und drückte die Klingel.
Ob das Haus leer steht? Oder ist es das, was Grischa vermietet? Tausend unnötiger Fragen tauchten auf, während er wartete. Noch immer spielte er mit dem Gedanken, einfach zu gehen und es hinter sich zu lassen. Bevor er sich aber abwenden konnte, öffnete Grischa die Tür. Er hatte sich des Öfteren gefragt, warum jemand wie Grischa sich mit ihm abgab. Warum er zuließ, dass sie zusammen in der Öffentlichkeit gesehen wurden, sogar auf einer Party wie Hidden Desires. Der Märchenprinz, das Model, der Milliardärssohn, denn nichts anderes war der Redhead. Und ich verkörpere das krasse Gegenteil dazu.
Cilian zuckte leicht zusammen, als die Tür vor seiner Nase aufgerissen wurde. »Du bist spät.«
»Ich bin am Haus vorbeigefahren«, gestand er schnell. Passt mir selbst nicht. Er mochte Pünktlichkeit.
Sein Blick flog über das Gesicht des Älteren. Die fehlende Rasur, die ihm bereits am vergangenen Dienstag aufgefallen war, war nicht nur Faulheit gewesen. Planst du jetzt, dir einen Bart stehen zu lassen?, fragte er sich und überlegte, wie er das an Grischa finden würde. Nicht, dass es nicht zu ihm passte – Cilian hoffte nur, dass es nicht einer dieser Hipster-Brustlang-Bärte würde. »Aber ich bin ja jetzt hier!«
»Komm rein.« Grischa trat beiseite, doch Cilian folgte der Aufforderung nicht sofort. Er blieb vor der Schwelle stehen, zog die Unterlippe zwischen die Zähne und schluckte trocken. Ist das wirklich eine gute Idee? Er ließe sich auf etwas ein, von dem er keine Ahnung hatte. Dabei war es nicht nur das. Er stand vor der Tür einer völlig anderen Welt. In zweierlei Hinsicht. Bezüglich des BDSM und der Tatsache, dass Grischa ihm Zutritt zu dem Wohlstand gewährte, den er vor anderen verborgen hielt. »Ich bring dich nicht runter in einen Folterkeller mit feuchten Stellen und Schimmelpilz, Herzchen.«
»Was?«
Amüsiert schnaufte Grischa und deutete mit der Hand eine Geste in den großen Korridor des Hauses an. »Du sollst deinen Arsch in mein Haus bewegen.«
»Oh … Äh, ja.« Er zwang sich, die dunklen Dielen zu betreten, und ließ Grischa die Tür schließen.
Die hohen Wände waren beeindruckend, die Stuckabschlüsse zur Decke hin oder die Stuckblumen, die über den Kronleuchtern angebracht waren, waren atemberaubend schön. Dazu die dezente Einrichtung, die für ihn aber mehr Ausstellungscharakter besaß, schindete zusammen mit den eleganten, alten Elementen beim Hineinkommen Eindruck. Ihn umfing keine Heizungswärme. Cilian erinnerte sich an die Zeit, in der sein Großvater das kleine Haus mit dem Kamin im Wohnzimmer geheizt hatte. Es war wärmer, angenehmer.
»Deine Jacke.«
Cilian zog den Reißverschluss der dicken Daunenjacke auf und streifte sie von den Schultern. Der Redhead nahm ihm das Kleidungsstück ab.
Cilian rieb sich über die Arme, nachdem er die Jacke abgelegt hatte. Langsam bemerkte er, dass es Winter wurde. Nicht, dass er die Jahreszeit hasste. Er mochte sie nur weniger als den Herbst. »Schuhe aus?«
»Lass sie an.« Grischa hing seine Jacke an die Garderobe, die wirkte, als stamme sie aus der Zeit, in der das Haus errichtet wurde. Alles war so freundlich. Weiß, aber freundlich. Und unpersönlich. Er merkte dem Gemäuer an, dass Grischa nicht darin lebte.
»Was … hast du genau vor?«, fragte Cilian und folgte ihm an den etlichen Holztüren vorbei, bis ans Ende des großen Flurs. Sie betraten einen mit Licht durchfluteten Raum, dessen Aussicht durch die bodentiefen Fenster zur Terrasse hin atemberaubend war. Der große Tisch mit sechs Stühlen stand allein unter einer schwarzen, modernen Lampe.
Zu Cilians Rechten führte ein Durchgang in ein riesiges Wohnzimmer mit einer Couchgarnitur in hellen Cremetönen und grauen Kissen. Ein Fernseher hing an der Wand über dem Kamin. Blumen standen auf kleinen Tischen oder der großen Fensterbank. Es war dekoriert, aber nicht, um den Eindruck zu vermitteln, dass es bewohnt war. Dieses Haus war ein lebloses Objekt, das denen aus Dekorationszeitschriften am nächsten kam. Nicht ein Teil lag auf dem Boden, nichts war verschoben. Diesem Haus fehlte die Seele.
»Kaffee?«
Cilian wirbelte herum und huschte in die gigantische Küche im weißen Landhausstil mit Kochinsel und Edelstahlkühlschrank. »Hast du was anderes da?«
Statt zu antworten stemmte sich Grischa mit den Händen auf der massiven Granitplatte der Insel ab und sah ihn über das Cerankochfeld, den frischen Gartenkräutern und dem Wasserkocher hinweg an. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Die hab ich aber«, gestand er und zog einen der Hocker unter dem Sitzbereich der Insel hervor, stieg darauf und begann die Muster auf der Arbeitsfläche nachzumalen. »Ich meine …« Er seufzte. »Wir haben nicht darüber gesprochen.«
»Deswegen biete ich dir den Kaffee an. Um jetzt mit dir darüber zu reden. Denkst du, ich trete dich unvorbereitet in eine Session?«
Er zog die Lippe zwischen die Zähne und begann an seinen Nägeln zu spielen. »Ich weiß nicht.«
»So läuft das nicht.« Wasser lief in den altmodischen Flötenkessel. Grischa stellte diesen auf den Herd und lehnte sich dann seitlich neben Cilian an die Arbeitsplatte. »Wir ziehen kein Hardcore-Programm durch. Kein Sex, keine Körperlichkeiten, die über die Grenze hinausgehen. Ich habe nicht vergessen, was du mir in der Nacht von Sonntag auf Montag vorm Paray gesagt hast.«
»Ok …«, murmelte Cilian. Er war dankbar dafür, dass Grischa sich an ihr Gespräch erinnerte. Schließlich hatte er ihn nicht umsonst darum gebeten, Distanz auf körperliche Ebene zu halten. Keine Küsse, das war seine Bitte gewesen und ihm war wichtig, dass sie eingehalten wurde.
»Ich möchte, dass du ein Gefühl dafür bekommst. Nicht nur mit den Augen siehst. Sondern mit deinem Körper, allen Sinnen. Du wirst es riechen – das Holz, das Leder, den Stoff, den Geruch von Hanfseilen, Latex. Du wirst es fühlen. Die Wärme im Raum, das Holz unter deinen Füßen. Es ist nicht nur hinsehen. Du willst es verstehen und ich will dir dabei helfen.« Leise begann der Kessel zu pfeifen und rettete Cilian für eine kurze Zeitspanne davor, zu antworten oder mehr zu hören. »Tee?«
»Gern.«
»Schwarz, Grün, Weiß oder Pfefferminz?«
Cilian zögerte. Drei davon besaßen negative Erinnerungen. »Weiß«, sagte er deswegen und bekam wenig später eine graue, hohe Tasse zugeschoben, bevor Grischa sich ein Glas aus einem der Hängeschränke nahm und es mit Leitungswasser füllte. »Was … hast du dir vorgestellt?«
»Wir werden nicht direkt eine Session haben«, erklärte Grischa. Der Redhead nippte an seinem Glas und lehnte sich an die Kochinsel. »Du musst keine Listen ausfüllen. Noch nicht zumindest. Der Sub hat weitaus mehr Macht in den Händen, als viele denken.«
»Das heißt?«
»Ich lasse den Großteil meiner Spielzeuge im Schrank. Ich möchte, dass du ein Gefühl dafür bekommst, weißt, wie sich Seile an deinen Gelenken anfühlen, wie warm Metall auf der Haut wird.« Ein halbseitiges Grinsen erschien auf Grischas Lippen. Cilian wandte den Blick ab, starrte stattdessen auf seine Tasse und spielte mit dem Band des Beutels. »Wovor hast du Angst?«
Die Frage riss ihn aus der beginnenden Gedanken. »Hm?«
»Ich behaupte einfach, dich ein wenig zu kennen. Diese Reaktion ist unüblich. Du weichst mir normalerweise nicht aus. Also?«
»Dass …« Cilian zuckte angedeutet mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Es ist … Ich habe Angst, dass etwas schiefgeht.«
»Was sollte schiefgehen?«, fragte der Ältere, schenkte ihm einen besorgten, mitfühlenden Blick, als Cilian von seinem Tee aufsah.
»Das es mir nicht gefällt und ich doch nicht in der Lage bin, nein zu sagen, oder …« Er atmete tief durch und stieß die Luft geräuschvoll durch die Nase wieder aus. »Ich habe Angst davor, dass wir nicht allein sind und …« Cilian biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. »Vergiss es«, murmelte er.
»Warum sollte jemand dabei sein?«
»Das ist die schlimmste Vorstellung, die ich überall bei habe, Grischa«, antwortete Cilian kleinlaut, tauchte den Beutel ins Wasser und zog ihn wieder hoch.
»Ich brauche dein Vertrauen.«
»Ich weiß.«
»Wenn du mir nicht vertrauen kannst, dann hat das hier mit uns keinen Sinn, Cilian.«
Er fuhr hoch, saß kerzengerade auf dem Stuhl. »Ich …!«
»Hier ist niemand. Du kannst das Haus absuchen, die Tür abriegeln. Wenn es dir dadurch besser geht. Wir sind hier allein. Nur du und ich.«
»Ich glaube dir, nur-« Er schloss die Augen, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger darüber.
»Ich mache das ewig. Bisher habe ich dich nicht belogen, oder?«
»Nein.«
»Ich weiß, was ich tue. Wir tasten uns vorsichtig an die Sache heran. Du lässt deine Klamotten an.« Grischas Augen flogen über ihn. »Vielleicht solltest du den Pullover ausziehen.«
»Ok …«
»Wenn dir etwas nicht passt, hast du reichlich Zeit, mir das mitzuteilen.«
»Mit den Save Words?«
Grischa schüttelte den Kopf. »Noch geht es auch ohne.«
»Ok«, flüsterte Cilian und rief sich zur Räson. Es war kein feuchter Vergewaltigungskeller. Er war in einem sicheren Haus. Neben ihm stand ein erfahrener Dom. Grischa war kein Schwätzer. Cilian hatte seine Bekanntschaften getroffen und niemand aus der Szene hatte etwas davon, Märchen zu erzählen, wenn die Sicherheit anderer Personen davon abhing.
»Hast du noch Fragen?«
»Was machen wir gleich?«
Das Grinsen war zurück. »Sachen«, flüsterte Grischa.
Ihm war klar, dass der Zweck dieser Antwort war, die Stimmung zu heben. Die Atmosphäre zu lockern und Cilian würde lügen, wenn es nicht ein bisschen dazu beitrug. Er seufzte. »Grischa.«
»Ok, ok. Sachen, die uns einander näherbringen.« Es folgte ein Zwinkern und der Redhead stieß sich von der Kochinsel ab.
»Die uns …«
»Entspann dich, Hertzog«, riet ihm der Ältere und leerte das Glas in einem Zug. »Ich geh hoch, du lässt dir noch etwas Zeit, komm ins richtige Mindset, überzeug dich davon, ob du das willst. Ob du es wirklich willst. Wenn nicht, höre ich die Tür, wenn du gehst.«
Cilian sah ihn an. Sprachlos. Selbst seine Gedanken kamen zum Erliegen. Es dauerte eine Weile, bis er sich gefangen hatte und ohne zu stottern sagen konnte: »Ich könnte einfach abhauen?«
Grischa hob angedeutet die Schultern. »Zwinge ich dich, hier zu sein?«
»Nein. Aber …«
»Du bist frei zu gehen, wie es dir passt. Das gilt immer. Es braucht nur ein Wort: Rot. In einer Session bricht es alles sofort ab.Alles. Bist du aus der Fesslung oder was auch immer raus, kannst du gehen.« Der Russe schob die Hände in die Hintertasche seiner Jeans. »Besser ist es, wenn man das in dem Fall dann nicht macht, aber rein theoretisch kannst du immer abbrechen und dann einfach gehen.«
Cilian öffnete den Mund. Nur kam kein Wort über seine Lippen. Vor ihm stand ein anderer Mann. Nicht, dass er erwartet hatte, dass Grischa sich anders verhielt. Er kannte seine abweisende, kühle Seite. Aber er hatte in den letzten Wochen auch andere Facetten kennengelernt.
Hatte Cilian mit einer Rolle gerechnet? Sicher, wer hätte das nicht? BDSM war der Dom und Sub in einer Rolle außerhalb des typischen Gesellschaftsbildes. Nur hatte er nicht gedacht, dass Grischa so verständnisvoll und mitfühlend war, sobald sie zu diesem Thema kamen.
Etwas in ihm hatte diesen Tag gefürchtet. Er hatte wahrlich Panik gehabt und beim alleinigen Gedanken an eine Session, ganz gleich wie leicht sie sein mochte, durchnässte kalter Schweiß Cilians Shirts.
Jetzt hingegen saß er hier und hörte die samtig tiefe Stimme mit dem russischen Akzent in sanften, verständnisvollen Tönen mit ihm sprechen. Es gab einen Punkt, ganz zu Anfang ihrer Begegnung, da hatte Cilian es nicht einmal für möglich gehalten, ein ernstgemeintes ‘Guten Morgen’ von seinem Gegenüber zu bekommen.
»Also?«, fragte Grischa und riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Oh, uhm.«
»Ich gehe hoch. Du kommst nach«, sagte er, »wenn du willst.«
Cilian fand sich dabei wieder, dass er nickte. »Ja.«
»Ok.« Ein Schmunzeln zupfte an Grischas Lippen. »Dann bis gleich.« Grischa klopfte auf den Granit und verließ kurz darauf die Küche.
»Alles klar«, murmelte Cilian. Dann war er allein mit sich und seiner vollen Tasse. Er hörte Grischas Schritte, das Knarzen der Treppe und das Klicken eines Schlosses. Es waren sanfte Geräusche, die in diesem großen Haus zu einem zarten Echo wurden. Letztlich war es nur noch der Widerhall seines Herzens in seinen eigenen Ohren. Der Muskel in seiner Brust donnerte gegen die Rippen, jagte seinen Puls in die Höhe. Cilians Finger wurden feucht. Seine Zähne bohrten sich so tief in seine Unterlippe, dass er Blut schmeckte. Er kniff die Augen zusammen. »Nicht dran denken. Nicht dran denken«, flüsterte er in die erdrückende Stille um ihn herum, bevor er sich durchs Haar fuhr. »Es ist Grischa. Er macht das länger als zehn Jahre. Er weiß, was er tut.«
Ihm würde hier nicht dasselbe passieren, was ihm mit Miles geschah. Du bist hier sicher, redete er sich ein.
Cilian stand auf, ließ etwas kaltes Wasser in die Tasse laufen und stürzte den verdünnten, kühlen Jasmintee in einem Zug herunter. Sein Geschirr räumte er in die Spülmaschine, in der sich außer seiner Tasse auch ein einzelner Teller und eine Suppenschüssel befanden. Danach lief er vor der Küchenzeile auf und ab. Ein trauriger Versuch, sich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bekommen. Ein Blick an sich herunter. Er hob den weiten, schwarzen Pullover von Snipes samt dem darunterliegenden Shirt bis zu seiner Brust. Babyspeck, schoss es ihm durch den Kopf. Ein bisschen Kuschelpolster am Bauch quoll über den Bund der engen Celvin Klein-Boxershorts, die er trug. Nichts, was er als fett sein bezeichnen würde. Und es ging auch nicht darum, Grischa zu gefallen. Die Session, diese ganze Aktion, hatte nichts Sexuelles. Trotzdem kam er nicht umher, den Stoff angewidert zurückgleiten zu lassen. Er kämpfte die Worte herunter, die aus den Tiefen hochkämpfen wollten. Hässlich. Zu fett. Nicht begehrenswert. Nur ich liebe dich, hallten Miles’ Worte durch seine Erinnerung.
Cilian schüttelte heftig den Kopf und hätte die Stirn am liebsten gegen die nächste Wand geschlagen. Niemand wird dich je wieder anfassen wollen. »Fuck!«, murmelte er. Verzweifelt hob er die Hände, fuhr sich durch die dunklen Locken. »Was mach ich hier?«, fragte er in die Ruhe.
Seine Gedanken flogen zur Haustür. Es wäre ein Leichtes, einfach zu gehen! Aber das tat er nicht. Etwas in ihm hielt ihn hier; hielt ihn fest. Das Wissen, dass Grischa ihn bisher zu nichts gedrängt hatte, ließ ihn bleiben. Sobald auch nur der Ansatz von Rot über seine Lippen perlte, hätte die Session ein Ende. Immerhin hatte Cilian sich während seiner Recherche ein grobes Bild davon machen können. Und was ist, wenn es dir hilft?, ging es ihm durch den Kopf. Es gab Momente in seiner Vergangenheit, die er durch dieses Erlebnis auslöschen oder wenigstens überschreiben konnte. Das wollte er nutzen. Musst du nutzen!, mahnte er sich und ließ die Hände gegen seine Oberschenkel fallen.
Er legte den Kopf in den Nacken, musterte die edle Decke über sich und schloss dann kurz die Augen. Tief atmete er durch, versuchte, sein Herz zu beruhigen. »Es ist alles in Ordnung«, redete er sich Mut zu und machte auf den Hacken kehrt, um die Küche zu verlassen.
Er betrat die obere Etage. Der Boden bestand aus den original Dielen. Kleine Macken und Fehler im Holz ließen auf das Alter schließen. Fasziniert betrachtete Cilian die cremeweißen Wände, die mit Stuckarbeiten abgesetzt waren und Rahmen besaßen, wie er sie aus Historienfilmen kannte. Diese Etage fühlte sich lebendiger an. Die dunkelbraunen Holztüren durchbrachen die cremefarbene Gleichheit. Und obwohl hier keine Bilder hingen, hatte es etwas Persönliches. Es webte sich der Geruch von Wohnung in die Luft. Eine Mischung aus Grischas Parfums, dem Duft von frischer Wäsche und gelüfteten Räumen.
Ein Räuspern riss ihn aus seiner Faszination. Grischa lehnte im Rahmen der Tür am Ende des Flurs. Der Tätowierer stieß sich ab, als Cilian vor ihm Halt machte und ihm ins Gesicht sah. »Gib mir deine Hände.«
Zögerlich kam Cilian der Aufforderung nach und bemerkte erst in dem Moment, wie sehr seine Finger zitterten und dass seine Innenflächen feucht waren.
»Vertraust du mir soweit?«
»Ich denke.«
»Kein Ich denke«, entgegnete Grischa mit Nachdruck. »Ja oder nein.«
»Ja«, antwortete er und nahm das Nicken zur Kenntnis.
»Warum zittern deine Hände?«
»Nervös.« Das stimmte zur Hälfte. Es war nicht gelogen, nur eben nicht die ganze Wahrheit.
»Brauchst du nicht.«
»Ich kann’s aber nicht abstellen.«
»Du wirst. Du musst mir vertrauen.«
»Ok.«
»Ich verlange nicht, dass du eine Rolle spielst«, wiederholte Grischa. »Du bist, wer du bist. Das hier ist anders als meine restlichen Sessions. Du bist nicht mein Sub.«
»Ok.«
»Cilian«, mahnte Grischa, »verstehst du das?«
Hertzog musterte ihn, fuhr mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen und … nickte.
Grischa ließ von ihm ab. Augenblicklich wurden die Stellen, an denen Krylows Finger gelegen hatten, kalt. Für einen Moment sehnte sich Cilian die Berührung zurück, wurde aber in seiner Überlegung unterbrochen, als Grischa die angelehnte Tür zum Spielzimmer aufstieß.
Der Redhead betrat den Raum, während Cilian im Flur stehenblieb und ins Innere schielte. Vor ihm eröffnete sich das Paradies für einen jeden aus der Szene. Statt von roten Wänden begrüßt zu werden, waren diese schlicht weiß gestrichen. Dunkle Holzbalken zierten die Seiten, gaben dem Raum einen altertümlichen Touch. Der Boden zu seinen Füßen bestand aus schiefergrauem Laminat oder PVC. Geradeaus befand sich eine Stahl-Glas-Vitrine, ein Display für Spielzeug, Accessoires und Gegenstände, die er auf die Entfernung nicht identifizieren konnte. Zu seiner Rechten knickte das Zimmer ab und folgte dem Muster der unteren Wohnung. Ein breites Milchglasfenster spendete Licht, konnte wenn nötig aber abgedunkelt werden. Die entsprechenden, schwarzen Vorhänge waren vorhanden. Rechts von ihm befand sich ein Kingsizebett – ein schwarzes Metallgestell mit schwarzem Himmel aus Samt.
Cilian haderte mit sich. Seine Rolle als Beobachter wäre in dem Moment vorbei, in dem er den Fuß ins Zimmer setzen würde. Sein Blick glitt zu dem Älteren und er beobachtet ihn, wie er die Ärmel des schwarzen Hemdes hochschlug, seine tätowierten Arme präsentierte und die Uhr ablegte.
Cilians Herz raste ohnehin, legte jetzt aber noch einen Zahn zu. Er spürte jeden Beat in seiner Brust, der eine Vibration durch sein Skelett schickte. Ein aufgeregtes Kribbeln floss durch ihn. Noch wusste er nicht, ob das gut oder schlecht war. Sein Mund wurde trocken. Das Schlucken fiel ihm schwer und seine Lippen fühlten sich merkwürdig spröde an. Er rieb sich über die Arme, vergrub seine Zähne in seiner Unterlippe und atmete tief durch. Die Frage, ob er bereit war, sich dieser Welt hinzugeben, wurde in die letzte Ecke seiner Gedanken verbannt. Zögern war jetzt keine Option, denn damit käme das Überlegen und dann ginge er. Cilian kannte sich.
Er betrat das Zimmer.
»Schließ die Tür«, folgte die sanfte Anweisung, der er nachkam. Jedoch blieb er noch einen Herzschlag länger mit der Klinke in der Hand und dem Rücken zu Grischa gewandt an dem Blatt stehen.
Tiefe Atemzüge. Beruhig dich. Er wollte das Kribbeln von sich schütteln. Die Vermutung, dass die Stimmung umschlagen würde und er eine andere Seite des Älteren kennenlernte, breitete sich in ihm aus. Mehr und mehr. Ok, du kannst das.
Langsam ließ er seine Hand von dem kühlen Metall gleiten und wandte sich zu dem Redhead um.
Grischa stand im Durchgang zum rechten Zimmer. Schulterbreit. Die Hände waren hinter dem Rücken verschränkt. Allein die Haltung hatte etwas Abwartendes, etwas Herausforderndes. Der Hauch des Lächelns hingegen zerstörte jede Illusion, die sich in Cilians Vorstellung festbeißen konnte.
»Gold und Silber für deine Gedanken.«
Fast wäre Cilian zusammengezuckt. »Es ist nicht das, was ich erwartet habe.«
»Was hast du erwartet?«
»Rot«, gestand er. »Mehr rot. Das hier ist … nicht so erdrückend wie die Bilder.«
»Ich mag es clean und hell.«
»Merk ich«, murmelte Cilian und wagte es, an die Vitrine heranzutreten. »Schwimmst gern ein bisschen gegen den Strom, was?« Er warf einen Blick über die Schulter und bemerkte das satanische Grinsen auf Grischas Lippen.
»Etwas«, folgte die Bestätigung. »Mir ist das, was in ist recht egal.«
In Fashion. BDSM ist aktuell modern. Kein Lifestyle, dachte Cilian. Es war aber auch für Grischa keine Lebenseinstellung, nur ein Hobby unter vielen.
»Wie sehen die Spielzimmer im Club aus?«
»Nicht rot«, antwortete Grischa und kam auf ihn zu. »Ich habe eine natürliche Abneigung gegen die Farbe an einer Wand.«
»Außer deiner Küche.«
Der Tätowierer verzog das Gesicht. »Es war ein … Kompromiss.«
»Ah.«
»Gelb mag ich noch weniger.«
Ein Schmunzeln zupfte an Cilians Lippen. In der ruhigen, entspannten Atmosphäre, die der Ältere um sie herum schaffte, fiel die Angst langsam von seinen Schultern.
»Such dir eines aus«, folgte die Anweisung.
»Was?«
Grischa deutete auf die ordentlich zusammengelegten Seile, die im Farbspektrum von dunkel Blau bis Weiß reichten. Hier leuchtete ihm Rot entgegen. Nur kein Gelb oder Grün oder eine andere helle Neonfarbe. Es war gedeckt, einheitlich.
Cilians Blick schoss von dem Glasregalboden, auf dem sich die Seile präsentierten, eine Etage höher. Dort lagen Handschellen und Lederfesseln in verschiedenen Ausführungen. Er biss die Zähne zusammen, verdrängte die aufkommenden Bilder und Erinnerungen. »Schwarz ist ganz passend«, murmelte er und öffnete die Tür. Aber kaum schwebte seine Hand über den Knäulen, zögerte er. Sie waren unterschiedlich dick und lang. »Welches?«, fragte er deswegen.
»Links«, lautete die Antwort und Cilian griff nach dem schmalsten Bündel. Das Material war recht leicht, als er es in die Hand nahm. Kühl und gleichzeitig geschmeidig. Im Licht schimmerte es, glänzte wegen des Materials. Er reichte das Seil an Grischa weiter.
»Setz dich«, wies der Tätowierer ihn an und deutete an ihm vorbei Richtung Tür. Am anderen Ende des Raums stand eine schwarze Couch mit Holzschnitzereien. Es wies Ähnlichkeiten zu dem hohen Sessel in Grischas Büro auf. Derselbe Stil, samtener Bezug und gothic-chic.
»Hast du vielleicht irgendwo noch einen Thron versteckt?«, scherzte Cilian, als er auf das Sitzmöbel zuging und sich darauf fallen ließ.
»Wer weiß.« Tief und weich. Mit einer passenden Prise Bedrohlichkeit. Die Betonung jagte eine Gänsehaut über Cilians Arme.
»Ehrlich?«
»Find’s raus.«
»Was muss ich dafür tun?«
Grischa setzte sich neben ihn, löste mit geübten Griffen das Knäuel auf. »Dinge, von denen ich mir nicht sicher bin, ob sie deine Welt sind.«
Die Worte blieben zwischen ihnen. Cilian starrte ihm in die Augen. Unbewegt. Wagte es nicht, zu blinzeln, da er fürchtete, den Moment zu verpassen, in dem ihm Grischas Ausdruck den Witz offenbarte. Aber der kam nicht. »Du meinst das ernst?«
»Ja. Das macht den Unterschied aus, Cilian«, erklärte der Ältere und wandte den Blick ab. »Literatur und Kunst und Medien haben etwas in die Köpfe von Menschen gepflanzt, das vorher nicht einmal einen Gedanken wert gewesen war.« Grischa legte das Seil in der Mitte zusammen, formte so eine kleine Schlaufe, als beide Enden gleichlang waren. »Damit hat sich der Tor zu einer verbotenen Welt geöffnet. Zu einer Gruppe von Menschen, die Fetische ausleben, die in Unterdrückung Entfaltung finden. Die mit Schmerzen Lust empfinden. Du kannst so weit ausholen, wie du willst. Das macht andere, die damit vorher keine Berührung hatten, neugierig. So, wie es dich auch irgendwie neugierig macht«, sagte Grischa und sah auf.
Als sich ihre Blicke trafen, wollte Cilian Abstand nehmen, eine größtmögliche Distanz schaffen. Es war nicht die Art, wie Grischa ihn anschaute, es war auch nicht das, was er in den Augen erkannte. Viel eher fühlte er sich durch die Aussage … angegriffen. Ja, das war das richtige Wort dafür. Jedoch war es keine Angegriffenheit im Sinne von Verletztheit. Es waren seine eigenen Emotionen und Gedanken, die sich schier gegen ihn zu wenden schienen. Er hat recht, dachte Cilian.
Unter normalen Umständen wäre er nicht zu diesem Punkt gekommen. Ohne Edwards Anweisung hätte es ihn nie in die Tiefen des BDSM getrieben. Dann würdest du hier nicht sitzen, würdest das nicht tun. Denn ganz gleich, wie er es drehte und wendete, es war auch ein Hauch Neugierde dabei. Trotz seiner Vergangenheit. Trotz des Recherchezwecks, den diese Treffen für ihn hatten.
Bisher hatte er den Fakt vor sich verborgen. Dass Grischa es ihm so ins Gesicht sagte, war wie ein Schlag ins selbige.
»Ich …«
»Ich schere niemanden über einen Kamm. Mir sind Klischees im Kopf, sicher. Aber das geht jedem so«, fuhr Grischa fort. »Mir ist es gleich, welchen Antrieb Menschen haben, einen Fuß durch diese verbotene Tür zu setzen. Wichtig ist nur, dass sie entweder umdrehen und jene Tür leise hinter sich schließen, wenn es nichts für sie ist, oder reinkommen und sich versuchen. Das heißt aber nicht, dass sie sich zwingen sollen. Was gefällt ist gut. Was nicht, das nicht. Nicht umsonst sind wir kranke Perverse mit irren Fantasien – weil es einige gab, die die Tür eben nicht leise schließen konnten, nachdem sie sahen, was sich dahinter verbirgt.«
»Meinst du, ich mag nicht, was ich sehe?«
»Du bist reingekommen«, sagte Grischa und musterte das schwarze Nylonseil zwischen seinen Fingern. »Nicht nur metaphorisch. Du bist hier. Noch auf einem Level, das einer Story-Recherche angemessen ist. Wenn du tiefer eintauchen willst, verlässt du den sicheren Pfad, lässt deine Argumentation mit dem Artikel hinter dir«, fuhr der Tätowierer fort. »Dann ist es Interesse, dann ist es mehr als Neugierde. Nur kann das auch blind machen. Die Welt, in der ich mich bewegen kann, ist mehr als nur ein bisschen Fesselspiele und ein Klaps auf den Hintern. Es ist mehr als Chris und Pete auf der Bühne hatten. Mit dem richtigen Partner sitzen meine Grenzen lockerer. Und wenn du meinen Thron sehen willst, musst du ganz tief in die Hölle steigen. Dafür bist du, denke ich, nicht gemacht.«
»Woran machst du das fest?«
»Du hast es mir gesagt. Unten in der Küche«, erinnerte Grischa ihn.
Cilian schluckte trocken.
»Du kannst solch eine Rolle nicht spielen«, sagte sein Gegenüber und fixierte Cilians Hände.
Erst in dem Moment, als er das Wandern der Augen bemerkte, wurde ihm selbst klar, wie sehr seine Finger zitterten. Er hatte sie schon in dem Saum seines Pullovers vergraben, aber es war dennoch sichtbar. »Ich denke nicht.«
»Musst du auch nicht. Du kannst, wenn du willst. Mit mir kannst du Grenzen ausloten. Ganz gleich, wie nah sie an deiner Komfortzone sind oder wie weit weg davon. Es ist nur wichtig, dass du es wirklich willst. Deswegen noch einmal die Frage: Willst du bleiben oder gehen?«
Cilian atmete tief durch und schloss die Augen. Komm schon, dachte er und schloss die Hände um den Stoff zu festen Fäusten, um das Beben zu unterbinden. Er zwang sich zur inneren Ruhe und speicherte die Worte, die Grischa ihm sagte, zwischen. Es war nachvollziehbar, logisch. Alles, was über die blassen Lippen des Russen perlte, ergabt für ihn Sinn. Und sie halfen ihm, die Angelegenheit aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen: Grischa war Teil der Szene und tief darin verankert. Er hatte Leute zögern oder gehen sehen, hatte mit den Vorurteilen und Klischees zu kämpfen. All das waren Erfahrungswerte, die Cilian von niemanden sonst mitgeteilt bekam. Eine vergleichbare Chance bekäme er kein zweites Mal, denn allein dieses Zimmer zu betreten und dem Dom gegenüberzusitzen war nichts, was er mit jeder x-beliebigen Person machen könnte. Er vertraute dem Redhead.
»Ich bleibe«, sagte er letztlich und öffnete die Augen.
Grischa schenkte ihm ein schmales, kaum sichtbares Lächeln. »Ziehst du den Pulli aus?«

***
Cilian verfolgte geschickte Finger und schwarzes Seil, das sich um seine Handgelenke und Unterarme schlang, bemerkte das warme Material und den Druck auf seiner Haut, sobald Grischa einen Knoten festzog. Sicherheit – das Wort fiel oft und in einer Häufigkeit, die er nicht erwartet hatte. Ständig teste der Redhead, ob zwischen Schnur und Haut genug Platz war. Minimal der Zeigefinger sollte noch zwischen Fesslung und Körper passen. Keine verdrehten Taue.
Er verlor den Faden. Sein Kopf schwirrte von all den Erklärungen, den verschiedenen Bindungen, den Knoten, den Techniken, die bei Grischa so leicht aussahen.
»Alles gut?« Blau grub sich in seine eigenen braunen Augen. Cilian nickte. »Verbal geht auch?«, hakte Grischa nach.
»Ja. Ich bin nur konzentriert«, erklärte er. Merkte er doch, dass die Bewegungen und Handgriffe ihn nahezu hypnotisierten. Und, dass ich versuche, mich von der Nähe abzulenken.
Grischa saß nahe bei ihm. Er bemerkte die Körperwärme. Manchmal streiften sich ihre Knie. Ganz zu schweigen von den Fingerkuppen, die über seine Handgelenke und Arme glitten, die den Strick führten, legten und verknoteten, ihn wieder öffneten und entfernten, nur um dann über die vorher gefesselten Stellen zu fahren. Es war zu viel Nähe, zu viel Kontakt. Zu leicht und gleichzeitig zu intensiv.
Da war der entspannte Gesichtsausdruck des Älteren. Keine Falte zwischen den Brauen, keine harten Linien, sondern tiefe Entspannung. Es war, als würde Bondage denselben Effekt bei Grischa haben, wie andere ihn beim Puzzeln erfuhren. Geerdet, dachte Cilian. Es war das einzige Wort, das ihm dazu einfiel.
Langsam verschwand das schwarze Seil von seinen Handgelenken. Cilian entzog sich seiner Berührung, rieb über die Haut. Mehr ein Versuch, den Kontakt von sich zu reiben, als dass es etwas mit der Fesslung zu tun hatte.
»Willst du …«, begann Grischa und warf einen kurzen Blick zur Seite in den Raum, »noch etwas anderes versuchen?«
»Was?«
»Etwas, na, sagen wir, Komplexeres?«
»Weiß nicht«, murmelte Cilian. Sein Kopf sprang zurück in den Angstmodus. Gedanken quollen hoch, breiteten sich aus. Bilder. Vorstellungen. Der Anfang einer Session – etwas, das er hinterher nicht mehr stoppen konnte. Doch, schnitt er in seine eigenen Gedanken. Doch, du kannst das beenden, wenn es nicht geht.
»Du musst nicht. Es ist alles eine Möglichkeit, kein Zwang.«