Leseprobe: Lost in the Echos 4

Kapitel 1

Deimos Crane
Jetzt

Deimos erstarrte in den Polstern seines Ignis’ und fixierte den kleinen, dunklen Monitor. Er war unfähig, sich zu bewegen. Tausend Gedanken rauschten durch seinen Kopf. Tief im Inneren wusste er, was die Stille am anderen Ende bedeutete. Er konnte es körperlich wahrnehmen und dennoch wollte er es nicht wahrhaben.
„Nicht.“ Ein leises Hauchen verließ seine Lippen und gleichzeitig kam Leben zurück in seine Gliedmaßen.
Die Leitung, auf der er mit den anderen in Verbindung gestanden hatte, blieb stumm. Nur ein unterschwelliges Rauschen ertönte. „Das kann nicht sein“, flüsterte er.
Nivan war der beste Pilot, den er jemals hatte fliegen sehen. In seinen Augen hatte der Jüngere sogar ihn mit dem Können übertrumpft. Bisher hatte es noch niemand geschafft, ihn mit einer solchen Bewunderung und einem Hauch von Neid zurückzulassen. Nivan hatte ihm gezeigt, dass Leidenschaft mehr bewirkte als reines Talent. Deimos wusste, dass er niemals in der Lage gewesen wäre, einen Fighter so zu fliegen – intuitiv, rasant und gefährlicher, als das Ding mit der Bewaffnung ohnehin war. Die Manöver, ganz gleich ob angeberisch während eines Übungsflugs oder brutal mit scharfer Munition während eines Gefechts, besaßen stets eine unnennbare Eleganz. In all den Monaten hatte es nie eine Situation gegeben, von der er dachte, sie ginge nicht gut für seinen Flügelmann aus. Nicht einmal Jesse kam an das Talent, diese Fähigkeiten heran, die Nivan besaß. Dabei sah Deimos seinen ehemaligen Freund als einen der besten Piloten an, die jemals bei der Space Force dienten.
Das hier traf ihn so unerwartet, dass es ihm die Luft zum Atmen nahm. Es erschien ihm wie ein Deja-Vu. Wieder sah er unfähig zu.
Mit einem Mal schoss ihm all das durch den Kopf, das er Nivan nach Ritas Tod vorwarf. Wie sehr hatte er ihm den Tod gewünscht und wie sehr hatte er ihn sich vor allem selbst gewünscht? Und jetzt, wo er Nivan um nichts in der Welt verlieren wollte, kam dieser in einem Gefecht um?
„Deimos, nicht!“
Erst als Rix seinen Namen schrie, wurde ihm bewusst, dass er sich aus der Formation gelöst hatte und nun auf das noch immer sterbende Schiff zu preschte. Zwar befand sich die Red Sky inzwischen außerhalb der Gefahrenzone, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass der Jüngere dort war. Nivan befand sich darin und Deimos wusste nur eines im Moment: Ich muss ihn da raus holen!
„Er ist tot, Deimos!“, keifte ihm Terrie durch die Intercomverbindung zu. Er ignorierte sie, hielt weiterhin Kurs auf das Wrack. Ein Teil von ihm hoffte, dass er Nivans bewusstlosen Körper aus der Pilotenkabine bergen könnte, sobald sie zur Sleipnir zurückkehrten.
Wir sind Helden, wir sterben nicht einfach. Er bekam den Satz nicht aus dem Kopf. Er hallte in seinen Gedanken nach. Unaufhaltbar und brutal.

„Ich kann Ihnen nicht viel über den Zustand des Piloten sagen.“ Die Ärztin sprach wie durch einen Schleier zu ihm. Deimos verstand ihre Worte nicht richtig. In seinen Ohren klang ihre Stimme wie eine verzerrte, undeutliche Nachricht. Er erkannte ihre Person nicht einmal. Sie war eine Silhouette, gekleidet in eine beige-weiße Uniform mit Kittel.
„Wo ist er?“, fragte er und wusste, dass er sich wiederholte. Er war mit dem Ziel, nach Nivan zu sehen, zum Medical Deck gekommen. Aber er schaffte es nicht einmal, den Weg bis zur Information hinter sich zu bringen. Die Ärztin vor ihm hatte ihn im Flur abgefangen und sagte ihm nun, dass sie ihm keine Auskunft geben könne.
„Er ist nicht hier.“
„Ich habe gesehen, dass die Sanitäter ihn aus dem Wrack bargen.“
„Pilot.“ Ihre kleine Hand legte sich auf seinen Oberarm, während ihr winziger Körper den Weg zur Information versperrte. „Sie brachten Ihren Kameraden mit einem Soforttransport nach Asgardia.“
„Was?“ Deimos schüttelte den Kopf. „Die Stadt liegt in Trümmern.“
„Ihre Militärbasis, Chief Officer. Sie brachten ihn in ein Militärkrankenhaus.“
„Warum?“, das war alles, was seine Lippen verließ. „Die Sleipnir ist besser ausgestattet als jedes irdische Krankenhaus, jede Basis. Wenn…“
„Der Chefarzt geht davon aus, dass er es nicht schaffen wird, Chief Officer.“ Sie drückte leicht zu, zeigte ihm, dass er nicht allein war und Unterstützung bekommen könnte, sollte ihn der Verlust zu sehr mitnehmen. Er kannte das Prozedere, wusste, dass er sich an diverse Stellen wenden konnte, wenn es ihm zu viel wurde. „Sein Körper war durch die Verletzungen sehr geschwächt. Ihr Kamerad hat sehr viel Blut verloren und die Sauerstoffversorgung war dürftig. Machen Sie sich bitte keine Hoffnungen.“
„Wie?“, hakte er nach. „Wie kann es sein, dass…“ Wir sind Helden, Crane. Wir sterben nicht einfach. Dabei hatte er gesehen, wie die bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Sky in den Hangar geschleppt wurde. „Sie haben ihn geborgen, haben ihn zur Station gebracht und…“ Ihn nicht zu sehen, nicht einmal an dessen Bett stehen zu dürfen, brachte ihn um.
Nivan hatte sich, als Deimos verletzt gewesen war, auf die Krankenstation geschlichen und an seinem Bett gesessen. Nicht bei ihm zu sein, hieß, dass er sich im schlimmsten Fall nicht einmal von ihm verabschieden könnte. Man würde einfach jemanden aus seinem Leben reißen und für immer verschwinden lassen, ohne, dass er sein letztes Goodbye sagen konnte!
Seine Hände zitterten. Ich versteh das nicht. Wo ist der Sinn? „Doc… Er kann nicht sterben.“
„Auch Sie sind mit Ihrer körperlichen Modifikation nicht unsterblich, Pilot.“
„Nein…“, hauchte er, „sind wir nicht…“ Alles, was blutete, konnte getötet werden. Und sie bluteten so, so sehr.
„Soll ich Ihnen etwas zur Beruhigung verabreichen?“
Deimos schüttelte den Kopf. „Nein. Geht schon“, flüsterte er und streifte ihre Hand von seinem Arm. „Danke, Doc.“ Er würgte den Kloß in seinem Hals mühsam herunter, als er auf den Hacken kehrtmachte. Aber kaum blickte er in die entgegengesetzte Richtung, spürte er, dass er die Kontrolle über seine Emotionen verlor. Da half der Anblick seiner Staffel nicht.
Marco führte die kleine Truppe an, fror aber in allen Bewegungen ein. Selbst auf die Distanz sah er, dass dem Italiener jegliche Farbe aus dem Gesicht fiel. Rix wirkte neben ihm ohnehin blass und Green erschien, als würde er gleich zusammenklappen.
Er riss sich zusammen und überbrückte die Entfernung. Nur der Versuch, sich nichts anmerken zu lassen, scheiterte.
„Und?“, fragte Marco. Seine Stimme klang belegt, erschöpft. Nicht wegen des langen Kampfs. Sechs Stunden auf dem Schlachtfeld waren hart. Es zehrte an den Kräften, zeigte einem auf, dass man doch Grenzen besaß, die man nicht überschreiten konnte. Aber jetzt lag es nicht an dem Gefecht.
Crane presste die Lippen zusammen, sah zu Boden und schüttelte den Kopf.
„Was?“, hakte Green ungläubig nach. „Was, nein?“
„Sie haben ihn nach Asgardia in unsere alte Basis verlegt. Wir… Das…“
„Wir sehen ihn doch wieder, oder?“ Rix klang, als würde er bereits weinen und Deimos musste nicht aufsehen, um sich das zu bestätigen. „D. Wir sehen ihn wieder, oder?“, fragte er mit gebrochener Stimme nach.
„Ich … denke nicht, nein.“ Er hatte es nicht ausgesprochen, da zogen ihn zwei Arme in eine feste Umarmung. Der Duft von Greens Parfum, gemischt mit dem herben, beißenden Gestank von kaltem Schweiß fraß sich in seine Nase und dennoch vergrub er das Gesicht an der Halsbeuge des anderen Piloten. Er klammerte sich förmlich in der Uniform fest, um den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren.
Warum tut es so weh? Man könnte ihm das Herz mit einem stumpfen Messer aus der Brust hebeln und er würde nicht so leiden. Es fraß ihn von innen heraus auf. Diese Unfähigkeit, diese Hilflosigkeit…
„Geh weiter, Junge! Hier gibt’s nichts zu sehen“, bellte Terrie und er bemerkte, dass sich ihr Körper vor seinen schob, dass sie ihn abschirmte, um ihn nicht allen neugierigen Blicken auszusetzen.

„Gentelmen“, begann Addams und nickte Terrie zu, „Lady.“ Er drehte sich kurz seinem Schreibtisch zu und nahm einen blauen Pappordner hervor. „Angesichts der Umstände ist dies ein weniger erfreulicher Teil, aber dennoch habe ich die Ehre, Ihnen eine Beförderung zukommen zu lassen.“
Addams bat sie nach dem Abendessen, von dem kaum einer seiner Staffel etwas angerührt hatte, in Ausgehuniform bei ihm im Büro zu erscheinen. Jetzt standen sie in Reih und Glied, warteten auf neue Ausweise und Schulterklappen. Deimos spürte, wie sich bei der alleinigen Idee der Magen umdrehte.
„Senior Chief Officer Deimos Crane.“ Er trat einen Schritt vor und nahm die neuen Papiere entgegen, die er ab sofort mit sich führen müsste. Das Regelwerk bezüglich der Armee auf Lavaš war ihm noch nicht ganz vertraut. „Sie haben es sich verdient.“ Deimos nahm die Hand an, die Jude ihm darbot.
„Fühlt sich nicht so an, Sir“, murmelte er.
„Sie dürfen nicht aufgeben, Crane. Ich denke, es gäbe jemanden, der Ihnen gewaltig in den Arsch treten würde.“
„Ich weiß.“
„Machen Sie das Beste drauß, Senior Chief.“ Jude schenkte ihm ein gezwungenes Lächeln. Eine Geste, um die angespannt tieftraurige Stimmung zu heben. Ein Versuch, der kläglich scheiterte.
Diese Anrede… Diese Beförderung würde er mit Freuden verschenken, wenn er dadurch Nivan zurückbekäme. Nichts von dem fühlte sich real an. Da war der Umschlag mit der Urkunde und den anderen Unterlagen in seiner Hand. Er spürte das Papier zwischen seinen Kuppen, bemerkte die leichte Unebenheit im Kuvert, weil die Papiere darin eine unterschiedliche Größe aufwiesen. Da war der harte Stoff des gestärkten Hemdes, der an seinem Hals und den Handgelenken scheuerte. Aber nichts von alle dem zeigte ihm, dass dieser Moment real war. Es war, als stünde er neben sich und beobachtete seinen Körper bei Dingen, die er normalerweise aktiv erleben sollte.
Deimos wehrte sich mit allen Mitteln dagegen, anzunehmen, was passiert war. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn jemand starb. Dieses Gefühl der absoluten Leere, als er von Ritas Tod unterrichtet worden war, und dieser Hass, dieser Zorn, der mit dieser Mitteilung kam, hatte ihn geblendet, hatte ihn schier taub im Inneren werden lassen. Auch davor, als Jesse in der Pilotenkabine erstickte, fühlte er all das: Hass, Hilflosigkeit, Wut. Er kannte diese verdammten Gefühle! Aber jetzt war es, als würde da noch ein zweites Herz in seiner Brust schlagen, das ihm sagte, dass Nivan lebte. Wunschdenken. Sie teilten nicht dieselbe Verbindung wie die Morns untereinander. Sie konnten einander nicht am Leben erhalten, spürten das Atmen des anderen nicht über Millionen von Kilometer hinweg.
„Aufleveln sollte nicht so wehtun, oder?“, flüsterte Rix neben ihm und drehte den neuen Ausweis in seinen Händen, bevor er ihn in die Uniformhose schob.
„Und Crane…“ Jude hielt ihm einen Plastikbeutel entgegen. „Mir wurde gesagt, ich solle seine persönlichen Dinge an Sie übergeben.“
„Aus der Sky?“
Seine Staffel blieb an der Tür stehen, als Deimos sich noch einmal zu Addams umdrehte. „Ich denke, er hätte gewollt, dass Sie es an sich nehmen.“
Wortlos nahm er das Tütchen aus Addams Fingern und betrachtete den Inhalt. Erst auf den zweiten Blick erkannte Deimos die alte, abgegriffene und leicht geknickte Fotographie. Er nahm sie heraus, betrachtete die Familie, die darauf abgebildet war. Eine Frau, ein Mann und ein Junge um die drei oder vier Jahre. Er muss sie sehr vermisst haben. Denn, auch wenn man es dem Jüngeren nie angesehen hatte, so glaubte Deimos, dass sich Nivan immer nach einer richtigen Familie gesehnt hatte.
Sie hatten nie die Zeit gehabt, darüber zu reden. Aber er hatte Nivans Blicke am Esstisch bemerkt. Da war so etwas wie stummer Neid in den Augen des anderen gewesen. Kein böswilliger. Es war einfach nur der Schmerz des Verlustes und dessen, was Nivan nie hat erleben können. Deimos hatte ihn immer verstanden. Sie brauchten keine Worte, um miteinander zu sprechen.
Deswegen glaubte er auch, dass alles, was Evan behauptete, nicht ferner der Wahrheit sein könnte. Man kann nichts zeigen, was man nie gelernt hat. Nivan hatte nie gelernt, Liebe oder Mitgefühl auszudrücken. Er war in dem Glauben erzogen worden, dass Gefühle Schwäche waren. Sie machten ihn angreifbar und unmännlich. Ein Grund mehr, warum der Jüngere Probleme hatte, sich irgendwie zu artikulieren, sobald es um Emotionen ging. Ängste mussten heruntergeschluckt zu werden. Liebe war nur eine Spielerei. Anders konnte Deimos sich nicht erklären, was er während ihres kurzen Urlaubs auf Santur in seinem Gästezimmer erlebte. Diese Abneigung gegenüber Gefühlen; Panik, sie zu zeigen, dieses Hin- und Hergerissensein zwischen dem, was man gelernt hatte und dem, was man nun tatsächlich erfuhr.
Er verstand es und umso glücklicher war er gewesen, als Nivan sich entschied, sich dem doch zu öffnen. Und jetzt riss man ihm all das aus den Händen. Er bekam ein Foto von einer Familie, die er niemals hat kennenlernen dürfen. Eine geliebte Erinnerung einer Person, die er nie wieder in die Arme schließen dürfte. Warum durften wir einander nicht länger … halten? Deimos glaubte fest daran, dass er in der Lage gewesen wäre, einige der Wunden zu heilen, die die Vergangenheit in Nivans Herz gerissen hatte.
„Mein Gott, da wundert man sich ja, was er gemacht hat, um heute so auszusehen“, kommentierte Green, „er war ein unsagbar hässliches Kind.“
„Hey!“ Deimos verpasste ihm einen Schlag gegen die Brust, nahm ihm den Kommentar aber nicht weiter übel. Ihm war klar, dass seine Jungs nur versuchten, die Stimmung zu heben und zu vermeiden, dass er in ein tiefes Loch fiel. Und wenn er ehrlich war, starrte er in den alles verschlingenden Höllenschlund, der nur danach lechzte, ihn in sich aufzunehmen. „Danke, Addams.“
„Es ist bei Ihnen besser aufgehoben als bei mir im Schrank.“ Er schenkte ihm ein Lächeln, als er sich an den Tisch lehnte.
Deimos wandte sich mit einem letzten Blick auf seinen Vorgesetzten ab und folgte seiner Staffel aus dem Büro. Die Jungs gingen voraus, er selbst blieb etwas zurück, umklammerte die Fotografie und den einfachen Plastikbeutel mit beiden Händen, um es auch ja nicht zu verlieren.
Ein Gedanke drängte sich während des Weges zum Quartier auf: Hätte sich Nivan genauso entwickelt, wenn er bei seinen Eltern aufgewachsen wäre? Wären sie trotz allem aufeinandergestoßen? Wäre Nivan zum Militär gegangen?
Niemand suchte sich den Charakter aus. Man ist, wie man ist, ohne dafür eine Ausrede finden zu müssen. Man kann nur entscheiden, ob man die härtere oder sanftere Variante von sich selbst sein will. Nivan hatte diese Chance nicht gehabt, denn für ihn gab es dank Harry nur die erste Option: so hart und widerstandsfähig zu werden, wie möglich.

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