Leseprobe: Traumsterben

Prolog

Kühles Licht fiel von den Spots auf die in zartes Silber gerahmte Fotografie. »Stummer Schrei« – so lautete der auf der Plakette neben dem Kunstwerk stehende Titel.
Ein junger Mann, Mitte Ende zwanzig war in einem Schulterstück abgelichtet. Er raufte sich die dunklen, wilden Locken und verdeckte mit den Unterarmen nahezu das Gesicht. Das, was zu sehen war, waren die Augen. Der Blick gesenkt. Rabenschwarze Tränen flossen über die Wangen und färbten die helle Haut schwarz. Die zusammengepressten Lippen bildeten einen weißen Strich.
Verzweiflung. Angst. Ungehörte Gedanken, die wie zäher Teer alles Gute überdeckten – sie strömten als Flüsse purer Finsternis aus dem Körper heraus. Ihre Interpretation war dem Betrachter überlassen.
Cilian wandte sich von seiner Fotografie ab. Sie war Teil dieser Ausstellung, ein Symbolbild für all das, was man ein Leben lang herunterwürgt und nie anspricht – aus welchen Gründen auch immer. Die halbe Monochromie, die ihn in seinen eigenen Aufnahmen in dieser Exposition umgab, enthielt nur den Hauch von Farbe. Ein Monument der blassen Farblosigkeit, die mentale Störungen im Leben der Betroffenen hinterließen.
»Das gefällt mir«, sprach ihn eine junge Frau an und riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Danke.« Es war eine simple, einstudierte Antwort mit einem freundlichen Ton, dem ihm niemand falsch auslegen konnte. Eine Fassade, um die Langeweile zu verdecken, die sonst in seiner Stimme wohnte. Solche Veranstaltungen waren, wenngleich es seine eigene Ausstellung war, nichts für ihn.
»Ihre Werke sind alle sehr speziell. Wie kommen Sie zu Ideen solcher Projekte?«
Sein Blick glitt von ihrem Gesicht auf den Anstecker an ihrer Bluse. Elbe Morgenpost stand darauf und wurde ergänzt durch Marie-Anne Herzlinger. Sie war Journalistin. Was auch sonst, dachte er.
Kaum jemand interessierte sich für die Beweggründe hinter den Aufnahmen oder der Werke anderer Künstler. Wichtig war die Message. Nur was ist die Aussage? Ist das nicht grade das, was jeder selbst in das Bild interpretieren soll? Für ihn zählte es, einen Weg anzuleiten – denken und empfinden musste jeder selbst bei dem Anblick der Darstellungen, die er präsentierte.
»Durch das Leben«, antwortete Cilian und nippte an dem Glas. Der Wodka war vom geschmolzenen Eis verwässert und nahm langsam die Temperatur seiner Hand an. »Jeden Tag sehen wir Dinge, hören Dinge. Man muss nur lernen, hinzuschauen und wahrzunehmen.«
»Inspiration durch den Alltag«, murmelte Marie-Anne und kritzelte die Worte auf das karierte Papier des dicken Blocks in ihrer Hand.
Cilian sah dem Collegeblock an, dass sie ihn liebte. Leichte Knicke und die abgewetzten Ecken verrieten den langen Gebrauch. Lose Zettel lugten zwischen den Seiten hervor. Post-Its gaben dem weißen Einerlei Farbe. Irgendetwas sagte ihm, dass Marie-Anne ihren Traumberuf fand, als sie den Job als Redakteurin annahm.
»Kennen Sie die Modelle?«
»Alle?« Sie nickte. Cilian schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht alle. Für dieses Projekt startete ich einen Onlineaufruf, suchte normale Menschen – Menschen wie Sie und ich. Sie sagten mir nicht, was sie hatten. Ich gab ihnen freie Wahl auf das, was sie mir präsentierten und ich arbeitete mit dem, was sie mir zeigten.« Das war das Spannende an der Serie gewesen. Er hatte nicht gewusst, auf was er sich einließ. Das Alles hätte in die Hose gehen können, dachte er. Die ganze Fotostrecke war ein Versuch gewesen, und dennoch hatte es geklappt, dass die Kunstgalerie seine Werke ausstellte. Sie seien fesselnd. Roh. Voller Emotionen und Ehrlichkeit.
»Was ist mit dieser Person?« Sie deutete mit dem Kugelschreiber auf das Foto des Mannes, vor dem sie standen.
Cilian zuckte die Schultern. »Mäßig« antwortete und stürzte den Rest des Alkohols hinunter. »Wir stehen uns nicht nahe.«
»Das heißt also, sie kennen die Person. Wer ist er?«
»Ein Selbstportrait.«