Kapitel 1
Damals
Der Schlag in den Nacken ließ Nivans Kopf nach vorn schnellen und mit dem Baumstamm kollidieren, vor dem er kniete. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, ehe er den Schmerz im Nacken und an der Stirn bemerkte.
„Bist du zu dumm, den Abzug zu drücken?“, fuhr sein Onkel ihn herrisch an. Nivan presste die Lippen zusammen, blinzelte die Tränen weg, die sich in seinen Augen sammelten. Mühsam würgte er den Kloß in seinem Hals hinunter, quälte sich damit, nicht zu zeigen, was er empfand.
„Nein, Sir“, sagte er mit fester Stimme und er sah seinem Onkel in die Augen.
„Gib mir die Waffe.“ Nivan nickte, griff neben sich und nahm das an den Stamm gelehnte Jagdgewehr zur Hand, ehe er es an seinen Onkel weiterreichte. Mit schnellen, geübten Griffen entsicherte sein Gegenüber die Waffe und erhob sich aus der Hocke. „Das nächste Mal drückst du besser den Abzug.“
„Ja, Sir.“
Auf dem Heimweg begann es zu regnen. Dicke Tropfen fielen durch das dichte Blätterdach des Waldes auf den staubtrockenen Boden. Die Natur erschuf eine rauschende Kulisse um ihn herum, lenkte ihn von seinen eignen, viel zu lauten Gedanken ab.
Nivan fixierte den von totem Moos gesäumten Waldweg. Der pochende Schmerz hinter seiner Stirn ließ seine Sicht verschwimmen. Er blinzelte die Unschärfe weg.
Harry sagte ihm ständig, er müsse die Konsequenzen für seine Fehler tragen. Ohne zu jammern. Wie ein Mann. Er wusste auch, dass ein weiteres Versagen nicht nur einen Schlag in den Nacken mit sich zöge. Sein Onkel tolerierte keine Fehler. Nicht einmal den kleinsten. Nivan lernte dies jedes Mal, wenn er mit ihm das Haus verließ. Es ist seine Art, dir Gehorsam und Disziplin beizubringen. Zumindest redete er sich das ein. Er bereitet dich nur vor. Langsam zog die eigens erschaffene Ausrede nicht mehr.
Befehle waren ohne zu zögern auszuführen. Er hatte die Aufgaben zu übernehmen, die Harry ihm auftrug. Denn jede davon hatte ihren Zweck. Das geschossene Reh sorgte für eine längere Zeit für ein Mittagessen. Der umgegrabene Garten erleichterte seiner Tante Cloe die Arbeit. Die Holzfinnen zu füllen, bedeutete, dass im Winter das Feuer im Kamin ohne Unterbrechung brennen konnte. Nivan hatte all das gelernt und wusste, dass er nicht eine dieser Aufgaben vernachlässigen durfte. Nur manchmal sind nicht hundert Prozent drin, dachte er und erinnerte sich an Cloes Worte. Sie war eine herzensgute Frau. Niemand, der eine Ehe mit jemanden wie Harry verdiente. Und doch ist sie geblieben. Genau, wie auch du bleibst … Er hatte einmal mit der fixen Idee gespielt, abzuhauen. Die Strafe dafür hatte er ertragen und trug die hellen Narben auf seinem Rücken, die der Gürtel den Abend schlug.
Nach sieben Jahren hatte er seine Lektionen diesbezüglich gelernt. Die ersten Jahre hatte sein Onkel ihm das wortwörtlich eingeprügelt. Auf dem Militärinternat half es ihm, nicht aus der Reihe zu tanzen. Er hatte begonnen, ohne zu zögern zu gehorchen. Er wusste, wo sein Platz war, wenngleich er es auch nicht immer guthieß. Aber sich aufzulehnen war falsch. Deswegen schwieg er, sprach nur, wenn Harry ihm das Wort erteilte und tat, was man ihm auftrug.
„Hier.“ Hart drückte sein Onkel ihm die Spaltaxt vor die Brust, als sie den großen Vorgarten erreichten. „Ich werde Cloe abholen fahren. Wenn ich zurückkomme, erwarte ich, dass die Finne dort gefüllt ist!“
Er folgte dem Fingerzeig seines Onkels und sah die halbvolle Finne neben dem Haus. Ein trockenes Schlucken, dann nickte er. „Ja, Sir.“
„Sieh mich an.“
Er zwang sich, dem Befehl nachzukommen, und blickte in Harrys kühlen, grauen Augen. Nichts an seinem Onkel erinnerte ihn an seinen Vater. Weder die Augenfarbe, noch die Gesichtsform und erst recht nicht die ganze Art. Sein Vater und dieser Mann konnten nicht unterschiedlicher sein. Der Soldat und der Wissenschaftler. Der Marine, der den Krieg gesehen hatte, und der Forscher, der versuchte, jene zu verhindern.
„Hast du verstanden, was ich von dir verlange?“
„Ja, Sir.“
„Wenn du damit fertig bist, wirst du dich hinsetzen und lernen. Wenn ich deine Noten sehe, wird mir schlecht! Ist das bei dir ankommen?“
„Ja, Sir.“
„Was?“
„Ja, Sir!“, wiederholte er und Harry drehte sich mit einem gemurmelten „Sehr gut“ von ihm weg, um auf den alten, rostigen Pick-up zuzugehen, der vor dem Blockhaus stand.
Sie wohnten eine etwa halbe Stunde von der Stadt entfernt, nah am Waldrand und abgeschieden von jeder anderen Menschenseele. Zehn Kilometer waren es von hier bis zum nächsten Hof und zwanzig bis zur Stadt.
Dieses Leben hatte Nivan sich nicht ausgesucht. Dieses Leben hatte ihn ausgesucht. Er konnte es nicht erwarten, bis die Sommerferien vorbei wären und er mit dem Bus zurück zum Internat führe. Weg von dem Haus, weg von den Menschen, weg von dem Wald!
„Dir fehlen ein paar Titten!“
Die Stimme seines Onkels klirrte in seinen Ohren und er war versucht, seine Hände darauf zu drücken, aber er wehrte sich gegen diesen Impuls.
„Das ist eine Waffe! Du sollst mit ihr töten!“
„Entschuldigung.“
„Wir sind hier nicht im Cheerleadercamp!“ Der nächste Schlag an den Hinterkopf saß. „Wenn du Pompoms schwingen willst, dann verpiss dich von meinem Hof! Du bist kein Mann, du bist eine Krankheit!“ Harry knallte die 9mm auf den aus Latten bestehenden Tisch vor ihm. „Laden!“
„Ja, Sir.“ Mit geübten Griffen drückte er neue Patronen in die sechs Magazine, die aufgereiht vor ihm lagen. Das zarte Schaben, als er eines davon in die Pistole schob, war ohrenbetäubend. Eine Gänsehaut kroch bei dem Geräusch über seine Arme, ließ ihn schaudern. Nivan schüttelte das Gefühl von sich und lud die Waffe.
„Anlegen!“
Er hielt die Knarre mit beiden Händen, stabilisierte den Stand und nahm die Zielscheibe ins Visier. „Feuer.“
Nivan spürte den Rückstoß in den Handgelenken, den Ellenbogen. Er hielt dagegen, damit ihm die Waffe nicht bei jeder abgefeuerten Kugel aus dem Fokus zog. Er wusste um die Wucht, kannte die Pistole inzwischen in- und auswendig.
Eine Kugel nach der nächsten verließ den Lauf und schlug ins Ziel. Nivan biss die Zähne zusammen. Nicht perfekt … Das wusste er auch, ohne das Ergebnis gehen zu haben. Für Harry reichte es nie …
Es war nur solide.
Es war nicht gut.
Es war nur solide!
Nivan schoss die nächsten fünf Magazine ohne lange Pausen zwischen dem Wechseln durch. Er hörte das Klirren in seinen Ohren. Das würde ihn noch einige Zeit begleiten. Das Pfeifen, das zu einem Hintergrundgeräusch wurde, bis seine Trommelfelle sich wieder erholt hatten. Einen Gehörschutz besaß er nicht. Echte Männer, so sagte Harry, bräuchten das nicht.
Ein letzter Schuss. Ruhe. Nivan senkte die Waffe, sah starr in Richtung Zielscheibe. Er erwartete einen Kommentar, eine sofortige Zurechtweisung. Stattdessen schweig der Ex-Marine neben ihm, griff nach dem Fernglas, das neben den Patronenkisten auf dem Tisch stand. Er warf einen Blick auf die in einiger Entfernung liegende Zielscheibe.
Nivan betrachtete seinen Onkel aus dem Seitenwinkel, wagte es nicht, sich großartig zu bewegen. „Hm“, kam es nach einer Weile. Ein missbilligender Laut. Ablehnung. Enttäuschung.
Harry riss ihm die Waffe aus den Händen. Nivan setzte an, sich für die Fehler zu entschuldigen, aber nicht ein Wort verließ seine Lippen. Sein Onkel drückte ihm das heißgeschossene Eisen in den von unzähligen Schlägen geröteten Nacken. Ein spitzer Schrei entkam seiner Kehle. Er brach ungewollt in die Knie, um dem Schmerz zu entkommen. Die Waffe fiel neben ihn auf den staubigen Waldboden, ehe er die sich entfernenden Schritte Harrys wahrnahm.
„Du bist nichts weiter als eine Enttäuschung, Nivan.“
Tränen fielen vor ihm in den Staub, als er die Hand auf die verbrannte Stelle im Nacken legte und den beißenden Schmerz zu ignorieren versuchte.
„Fick dich“, murmelte er, bevor sich seine Zähne in seine Unterlippe gruben und seine freie, rechte Hand sich auf seinem Knie zur Faust ballte. „Ich hasse dich.“
Egal, wie grandios er in etwas war; egal, was er erreichte – nichts davon war genug. Alles war solide. Alles war durchschnittlich. Der Sprung vom Kadetten zum Private? Reichte seinem Onkel nicht.
Er war fünfzehn, verdammte Scheiße! Fünfzehn Jahre und er verfügte über Fähigkeiten, die keiner in seiner Einheit beherrschte. Er hatte Gold im letzten Turnier des Internats geschossen – es reichte nicht. Selbst, wenn es keine Stufe über dem Perfekt gab, so gab es sie für seinen Onkel.