Leseprobe: WS 1 – Herzdieb

Kapitel 1

Selten passten Stimmung und Wetter zusammen. Die Sonne schien nicht, wenn man sich gut fühlte und es regnete nicht, wenn man Trauer verspürte. Heute hingegen war die Welt draußen und die in seinem Inneren ein identisches Abbild voneinander.

Die dicken Tropfen, die an den großen Schreiben des alten Busses herunterliefen und das Trommeln des Regens auf dem Dach waren klischeehaft herbstlich. Dunkle, bedrohliche Wolken formten bei jedem Blitz bizarre Muster über den schwarzen Outlines des Waldes. Das dumpfe Knurren des antiken Gefährts ging in dem Grollen des Donners unter. Die Welt außerhalb des Transportmittels und die im Inneren verschwammen miteinander, bildeten eine neue Realität.
Seit einer Stunde war er der einzige Fahrgast in dem nach Polsterreiniger und Hot Dog riechenden Bus Richtung Niemandsland. Er seufzte. Das Wetter spiegelte seine Gefühle eins zu eins wider. Es war eine Mischung aus aggressiver, melancholischer Entnervtheit. Ein großes, braunes Blatt, aufgewirbelt vom starken Wind, klatschte ans Fenster und rutschte an diesem herab, bis es verschwand. Langsam ließ er seine Hand an der Stange hinauffahren, an der sich der Knopf für den Haltewunsch befand. Er wollte ihn nicht drücken. Lieber führe er zurück dahin, wo er hergekommen war. Ihn brachte nicht sein freier Wille her. Es schien, als würde er am Tor der Hölle klopfen, anstatt den Ort zu erreichen, der sein Yin und Yang in Einklang bringen sollte.
Er kannte die Frau nicht, zu der er zog. Eigentlich war er nicht mehr in dem Alter, in dem er einen Vormund brauchte. Trotzdem hatte das Gericht seine Tante für ihn ausgesucht, die Formalitäten erledigt und ihm ein Flugticket organisiert.
War es besser, an den Arsch der Welt zu ziehen, als ein paar Jahre im Knast abzusitzen? Er hatte von einer bunten Palette an Möglichkeiten wählen können, die ihm sein Anwalt vorgelegt hatte. Psychiatrie? Gefängnis? Offener Vollzug oder doch lieber ein bisschen von allem?
Die finale Entscheidung war es, ihn auf Grund der Vergangenheit und der Umstände als unzurechnungsfähig einzustufen, was letztlich der Grund war, warum man ihm die Marke auf den Arsch klebte und ihn nach Waterville schickte.
Er behauptete, zu verstehen, woraus sich der Beschluss zusammengesetzt hatte. Die Möglichkeit, dass er sich die Arme aufschlitzte, weil er unter Alpträumen der Extraklasse litt, war höher, als dass er geheilt wäre und seine Gedanken einen Resetknopf erhielten.
Mit einem Ruck und einem zaghaften Quietschen kam der Bus zum Stehen. Die hintere Tür öffnete sich, er trat mit seinem Rucksack und der vergleichsweise schmalen Reisetasche in den gießenden Regen hinaus. Er stand an der Haltestelle ohne Häuschen und folgte den roten Rücklichtern des Fahrzeugs, bis sie nur noch ein nebliges Glimmen in den Bindfäden waren, die vom Himmel fielen.
Trotz der Tatsache, dass die Kapuze seines schwarzen Hoodies bis auf die letzte Faser durchnässt war, zog er sie über den Kopf. Die Hoffnung, dem frostigen Wind zu entkommen, erstarb nach Sekunden.
«Ich hätte einen auf komplett irre machen sollen», murmelte er. Dann wäre er jetzt in einer warmen, trockenen Einrichtung, die seinen Tagesablauf bestimmte. Morgens, mittags und abends gäbe es Auslauf um den Baum im Hinterhof. Danach folgte dann das Essen und zum Nachtisch schluckte man ein paar bunte Pillen, die die Welt erträglicher und weniger kompliziert machten.
Er folgte der Straße. Das Haus seiner Tante befand sich am anderen Ende der Stadt, ein Anwesen am Waldrand mit Gemüsegarten und Kamin – sein Anwalt hatte ihm Bilder gezeigt. Auch von der Frau, bei der er leben würde. Seine Tante Isabelle. Die jüngere Schwester seiner Mutter. Er schätzte Isabelle auf knapp vierzig, wenn überhaupt. Im Gegensatz zu seiner Mutter hatte sie ein gemächliches Leben außerhalb der Großstadt vorgezogen. Sie sah gut aus. Keine tiefen Furchen von Falten im Gesicht, kein graues Haar und dunkle Ringe unter den Augen. Sicherlich hatte sie eine tolle Familie, Kinder und einen herzensguten Mann – jemanden, der sich von seinem Vater unterschied. Wäre der Wichser nicht immer wieder in unser Leben gekommen …
Er erreichte einen Schotterweg, der hinauf zu einem einsam dastehenden Haus führte. Rauch stieg aus dem Kamin auf. Straßenlaternen gab es nicht mehr. Das einzige Licht fiel durch die Butzenfenster.
Der zarte orange Schein verschwamm durch den strömenden Regen und ließ ihn surreal wirken. Wie gemalt. Mit schnellen Strichen.
Er folgte dem Weg hinauf, schob das kleine, rostige Gartentor nach innen auf und betrat den gepflegten Wildwucher von Garten. Rosenäste schlugen an seine Schienbeine, Blätter und Gräser klebten an seinen schwarzen Stiefeln. Er seufzte frustriert auf, als er unter dem Vordach stehenblieb. Sein Finger berührte den Klingelknopf noch nicht, als die weiße Holztür vor ihm aufgerissen wurde und er in das freundlich lächelnde, von blonden Locken umrahmte Gesicht seiner Tante Isabelle sah.
«Ich habe dich erwartet!»
Seine Brauen wanderten kurz in die Höhe. Sein Blick glitt an ihr herunter, bevor er ihre Augen fixierte. Die perfekte Frau in ihrer perfekten Welt mit diesem beschissen perfekten Haus am Waldrand!
Er wollte auf den Haken kehrtmachen, verschwinden und so tun, als wäre er nie hier gewesen. «Hallo», presste er hervor.
«Du bist nass.»
«Kommt davon, weil’s regnet», sagte er nüchtern und ließ sie die Tasche aus seiner Hand ziehen.
Seine Finger waren kalt und steif vom eisigen Regen und dem peitschenden Wind. Seine schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn und egal, wie oft er sie zurückstrich, sie gehorchten ihm nicht.
«Komm rein. Ich mach dir einen Tee. Arthur, richtig?»
«Hm.» Sein Blick glitt an ihr vorbei in den Flur. Ein paar Schlüssel hingen an dem Brett neben der Tür, daneben Damenjacken an der Garderobe. Auf einem schmalen Teppich standen Schuhe in kleinen Größen, außerdem ein Regenschirm in einem weißen Metallständer.
Arthur verharrte einen Moment regungslos und lauschte, doch da waren keine Stimmen im Haus, keine Anzeichen für einen Mann oder Kinder.
«Hier ist das Bad.» Isabelle öffnete die Tür links nach dem Eingang. «Wenn du geduscht hast, trinken wir einen Tee zusammen, hm? Lernen uns ein bisschen kennen.»
Er musterte sie und zog die Lederjacke langsam aus. «Gern.»
Dabei gab es eine Handvoll Dinge, die er lieber tun würde, als ihr eine heile Welt vorzuspielen. Es würde nicht lang dauern, dann würde sie ihm gegenüber ihre Autorität ausspielen wollen. Die Person, die er während der drei Monate bis zur Abreise als Vormund gestellt bekommen hatte, konnte von Glück sprechen, dass er sich so gut unter Kontrolle hatte, sonst wären die Schneidezähne Geschichte.
«Gib mir den Rucksack. Ich bring deine Sachen hoch. Du hast das Zimmer unter dem Dach – das ist doch in Ordnung?»
Arthur zuckte mit den Schultern. «Es hat ein Bett, richtig?»
«Natürlich!»
«Dann ist es in Ordnung.»
Sie lächelte sanft und nahm ihm den Rucksack aus den Händen. «Lass dir Zeit», sagte sie. Ihre Stimme hatte einen süßen, weichen Klang und ihre Augen sprühten vor Liebe.
«Danke.» Er machte zwei große Schritte über die weißen Teppichläufer auf den dunkelgrauen Dielen. Die Stiefel würde er im Bad stehen lassen, damit sie ordentlich abtropfen konnten.
«Ich wisch’ das gleich auf.» Er deutete auf die dunklen Schlammränder und Wassertropfen, die er beim Hineinkommen hinterlassen hatte.
«Nicht schlimm. Alles kein Ding. Komm erst einmal an, ja?»

«Was soll sie mit mir?», flüsterte er, als er begann, die nassen Klamotten vom Leib zu schälen. Sein Shirt klatschte auf den Fliesenboden, genau wie seine Hose. Art drehte das Wasser der Dusche an und stieg unter den warmen Strahl.
Er lehnte die Stirn gegen die weißen Fliesen in dem gemütlich eingerichteten Bad. Isabelle lebte allein. Wenn der Eingangsbereich nicht genug Beweise dafür geliefert hatte, so fand er sie im Bad. Kein Aftershave, Herrenparfum und keine Kinderzahnbürsten – dabei hatte er sie für eine Familienperson gehalten.
Es würde einige Tage dauern, dann wüsste die Stadt, wer er war. Er lebte nicht auf einer isolierten Insel ohne Internet. Mütter würden mit ihren Kindern die Straßenseite wechseln. Wahrscheinlich dürfte er das Haus ohne Isabell nicht verlassen und ruinierte damit ihren wunderbaren Ruf.
Der Junge aus Detroit, der seinen eigenen Vater totgeprügelt hatte und neben seiner toten Mutter lag, bis die Polizei die Tür eingetreten und ihn in Handschellen abgeführt hatte.
Sein Vorstrafenregister füllte eine dicke Akte. Er passte nicht in die heile Welt einer Kleinstadt wie diese, die jährlich Gründerpartys abhielt und in der die Grundschüler eine Theateraufführung zu Weihnachten probten.
Arthur war mit seinen vierundzwanzig Jahren von Beruf Straftäter mit einem Nebenverdienst aus der Fertigungshalle. Jahre hatte er am Band einer Autofirma gestanden, mehrere Stunden am Tag Metall in eine Presse gelegt und zwei Knöpfe gedrückt. Ein Job, der einem das Dach über dem Kopf finanzierte, ohne das College besucht haben zu müssen. Und jetzt durfte er nicht einmal mehr das tun ohne die Genehmigung seiner Tante.
Er stellte das Wasser ab und griff nach dem beigen Handtuch. Erst das heiße Wasser der Dusche hatte ihm gezeigt, wie müde er war. Stunden an den Flughäfen, im Bus – sein Körper war ausgekühlt und fühlte sich selbst jetzt eisig an. Er wollte die Füße hochlegen, nachdem er sich in seinen Jogginganzug gehüllt hatte. Der Gedanke daran, dass sein gesamtes Zeug in der Reisetasche aber klatschnass sein könnte, ließ ihn das Gesicht verziehen.
Mit der Hand fuhr Art über den beschlagenen Spiegel und fixierte seine Erscheinung. Stahlgraue, von dunklen Schatten untermauerte Augen starrten ihn an. Ein Zeugnis des wenigen Schlafs, den er die letzten Wochen erfahren hatte. Er war blass, seine Lippen aufgesprungen und seine Haare mussten geschnitten werden. Sie hingen ihm über die Augenbrauen und die Ohren, der Undercut war kaum mehr als solcher zu bezeichnen. Seine Finger fuhren über die Stoppeln. Vielleicht gab es einen Frisör, zu dem er gehen konnte.
Seine Aufmerksamkeit fiel auf den Morgenmantel, der an der Tür hing. Er hatte keine Klamotten mitgenommen und auch, wenn das Ding ihm zu klein war, wollte er nicht halbnackt vor seiner Tante erscheinen.

«Wie … machen wir das am besten?», fragte Isabelle. Sie saß ihm gegenüber am Tisch. Die Unterarme ruhten auf der Tischplatte. Sie hielt ihre große Tasse mit beiden Händen umschlossen. Den Kopf leicht schräggelegt, schenkte sie ihm ein Lächeln. Aufmunternd. Ermunternd.
Er musterte sie stumm. Seine Finger glitten über das Etikett des Honigglases, das vor ihm stand. «Weiß nicht.»
«Hast du irgendwelche Wünsche? Möchtest du irgendwas wissen?»
«Nein.»
«Was erwartest du dir von dem Leben hier?»
«Ruhe.»
Sie seufzte verloren, nippte an ihrem Tee. «Ich möchte, dass wir einen guten Start haben. Dass wir uns kennenlernen können, Art. Sieh mich nicht als deinen Aufseher, ok?»
«Nichts anderes bist du. Du tütest die monatlichen Berichte des Psychologen ein und schickst sie zum Gericht – zusammen mit deiner Einschätzung über deinen Neffen.»
«Wir sind Familie, oder?»
Er sah auf. Ihr Blick lag auf ihm. Das Schmunzeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Sie gibt sich Mühe, ging es ihm durch den Kopf. Er zuckte mit den Schultern. «Du bist für mich eine fremde Frau, in einer fremden Welt mit fremden Menschen. Ich bin nicht hier, weil mir nach Landluft war.»
«Du kannst …», setzte sie an und lehnte sich etwas vor.
«Sondern, weil ich meinem Vater die Rübe zu Brei geschlagen habe.» Nüchtern schnitt er ihr das Wort ab.
Art musterte seine Tante und in diesem Moment flackerte etwas in ihren Augen auf, das er nicht direkt zu deuten wusste.
«Wäre mein Anwalt beschissen und mein Vater kein vorbestrafter, alkoholabhängiger Methjunkie gewesen, säße ich jetzt wegen Mord im Knast. Dann hätte ich nicht aus Notwehr gehandelt und beim Anblick meiner toten Mutter einen kompletten Knacks bekommen. Die Klappse konnte mit mir nichts anfangen. Mir meine Freiheit zu nehmen – das war ihre Go-To-Option», leierte er die Antwort herunter und verfolgte den dicken Tropfen Honig, der sich vom Deckel löste und in die zähflüssige Masse fiel.
«Du bist so ’n ruhiger Typ.»
«Der Schein trügt.»
«Willst du drüber …»
«Können wir nicht darüber reden?», unterbrach er sie harscher als erwartet. «Ich hab’ mich im Griff. Und alles andere ist vergangen.» Er sah ihr fest in die blauen Augen. «Ich hab’ mich geändert.»
«Also keine Autoknackerei?», fragte sie weiter, ohne den sanften Ausdruck zu verlieren.
«An wen sollte ich die Radios verticken? Den Nachbarn? Das liegt zehn Jahre zurück. Ich bin seit neun Jahren sauber, inklusive Schulabschluss und einem festen Job.»
«Das… Hm, ich möchte dir gern die Stadt zeigen. Gut, ich gebe zu, dass das innerhalb einer Stunde durch ist, und …» Sie zögerte merklich, zog die Unterlippe zwischen die Zähne. «Ich denke, es ist gut, sich auszukennen, richtig? Die neue Heimat zu kennen.»
Arthur rührte in seinem Tee, nahm den Blick von Isabelle und starrte in das rot gefärbte Wasser in der weißen Tasse. «Sicher.»
Es fühlte sich noch immer wie ein Alptraum an. Als würde er in einer emotionalen Schleife festhängen, die ihm, in egal welcher Situation, sagte, dass er wachwerden und alles in Ordnung sein würde.
Seine Mutter würde hektisch seine Tür eintreten, ihm die Thermoskanne Schwarztee entgegenwerfen und schreien, dass er verschlafen hatte. Das Lächeln, das sich auf seine Lippen quälte, unterdrückte er nicht. Sie war eine herzensgute Frau gewesen. Verloren, unorganisiert, aber immer pünktlich.
Dass sie nicht mit einem Zinkeimer und Kochlöffel auf ihn losgegangen war, sobald er den Wecker überhört hatte, hatte ihn stets gewundert.
Jetzt weckte ihn niemand mehr.
Niemand schmierte ihm die Brote für die Spätschicht, die mehr aus Marmelade als aus Toast bestanden.
Niemand schnitt ihm die Kruste ab …
Ich hab’ ihr so oft gesagt, dass sie das nicht machen soll … Und doch schnitt sie jedes Mal die Kruste …
Art drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Lider, in der Hoffnung, die Tränen zurückzuhalten.
«Hey …» Er hörte, wie Isabelle ihren Stuhl zurückschob. Dann bemerkte Art ihre zaghafte Berührung an seiner Schulter, bevor sie ihn in die Arme schloss.
Zu sehen, was für ein Leben seine Mutter hätte haben können, wenn sie Detroit verlassen hätte, dass sie dann vielleicht noch atmen würde …
Isabelles Pullover war weich an seiner Wange, als er den Kopf gegen ihren Bauch lehnte. Im nächsten Augenblick spürte Art ihre Finger in seinem Haar. «Es tut mir so leid, Art. Das alles», flüsterte sie.
Wie konnte eine Frau, die ihn nicht kannte, so liebevoll ihm gegenüber sein?

Taylor’s prangte über dem Ladenlokal der Stadt. Arthur betrat den nach Blut und Wurst riechenden Verkaufsraum nach Isabelle und richtete seine Lederjacke ein wenig. Nervös war er nicht, fühlte sich aber unwohl.
Isabelle hatte ihm von der Metzgerei erzählt und gemeint, sie bräuchten dort eine Aushilfe. Es war kein Job für die Ewigkeit, bloß einer, der ihm zu einer Routine im Leben verhelfen sollte, an der er sich festklammern konnte.
Für ihn waren die Tage in den Zellen eine Qual gewesen. Nichtstun, herumsitzen und die Stunden zählen – das war nicht sein Ding. Vielleicht war es keine gute Idee, zwei Tage nach seiner Ankunft nach einem Job zu suchen, anstatt sich einzugewöhnen. Doch im Grunde konnte er die Füße auch nach Feierabend hochlegen.
«Hallo Belle!» Eine junge Frau mit eng gebundenem, schwarzem Haar und dunklen Augen kam von hinten zu ihnen. Sie wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und lächelte freundlich.
Art ging die Fröhlichkeit in diesem Dorf auf die Nerven. Überall ein «Guten Morgen» und ein Grinsen auf den Lippen. Es war ungewohnt, von guter Laune und unbeschwerten Menschen umgeben zu sein. Alles, was er kannte, waren das ranzige Haus außerhalb Detroits, die Drogendealer mit ihrer Knarre hinterm Gürtel und die Cops, die einen ohne Grund zusammenschlugen. Nettigkeit war kein Bestandteil seines Lebens gewesen.
«Hi, Tira. Ist Magnus da?»
«Ja, hinten. Ist das dein Neffe?»
«Ja, das ist …»
Er nahm die Hand aus der Jackentasche und reichte sie ihr. «Arthur, freut mich», stellte er sich vor, zwang sich jedoch kein Lächeln auf die Lippen.
«Du hättest mir sagen können, wie gutaussehend er ist. Dann würde Magnus ihn für die Theke einstellen.»
«Keine gute Idee», hielt er dagegen, «bin nicht gut mit Zahlen.»
«Das ist schade. Wartet, ich hol’ ihn eben.» In der Durchgangstür nach hinten hielt sie inne und blickte zu Arthur zurück. «Hast du Zeit?»
Arthur hob die Schultern. «Hab’ nichts vor.»
«Magst du – also wenn Magnus einverstanden ist – direkt heute anfangen? Wir haben eine Lieferung bekommen.»
Sein Blick glitt zu Isabelle. «Du brauchst nicht für alles meine Erlaubnis», flüsterte sie, sodass Tira es nicht hörte.
«Wenn’s okay ist.»
Ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. «Klasse.» Die Tür schwang nach, als sie hindurchging.
«Meinst du, du kriegst das hin?», fragte Isabelle. «Tiere schlachten?»
«Bisschen spät für Zweifel. Ist ’n Job.»
«Ja, aber die Tiere leben. Das Metall in der Autofabrik ist tot.»
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Belle etwas hinzufügen wollte, doch das Klingeln der Ladentür ließ sie verstummen. Arthur sah über seine Schulter zu dem Neuankömmling.
Herein kam ein großer, breitschultriger Kerl, der seine langen, dunkelbraunen Haare in einem Zopf zusammengebunden hatte. Seine linke Augenbraue wies eine Narbe am Bogen auf, die ihre dichte, kräftige Linie unterbrach. Sie verlieh ihm einen Hauch von Gefährlichkeit.
Art spürte seine hellgrünen Augen auf sich. Der Fremde steckte seine Hände in die Hosentaschen der hellblauen, zerrissenen Jeans, die in schlampig geschnürten, braunen Lederboots endete. Als Arthurs Blick seinem begegnete, straffte der Unbekannte sofort seine Schultern. Keine Sorge, Großer, ich mach’ dir dein Revier nicht streitig, dachte er. Wäre die Situation nicht so absurd, hätte Arthur zu grinsten begonnen.
«Ist das dein Neffe, Belle?» Seine Stimme war ein düsteres Grollen mit dem nötigen Hauch aus Freundlichkeit und Sanftheit. Ein Mann nach Arts Geschmack. Nicht zu kuschlig und nicht zu männlich, um sich über allem zu sehen.
«Du kannst mich direkt ansprechen.» Mit diesen Worten wandte Arthur sich ihm gänzlich zu.
Ein Schmunzeln zupfte an den Mundwinkeln. Im ersten Moment machte es auf Art den Eindruck, als habe er so etwas wie eine Prüfung bestanden. Sein Gegenüber lockerte die Schultern, ließ von der angespannten Haltung ab und reichte ihm die Hand. «Levi Griffith.»
«Arthur Nolan.»
Levis Händedruck war kräftig, seine Innenflächen rau – Arbeiterhände. Er machte nicht nur den Eindruck, als könnte er anpacken.
«Kommen selten neue Gesichter her. Erst letzte Woche hat die Schwester unseres Nachbarn ihren Hund geheiratet, weil’s keine Männer gibt.»
Arthur hob unbeeindruckt die Augenbraue. «Wer ist dann deine Mutter? Gleichzeitig deine Tante und Großmutter?», hakte er nach.
Levis Augen weiteten sich, bevor er in ein Gelächter ausbrach, das an den Wänden des kleinen Ladens widerhallte.
«Dein Humor ist Scheiße, Levi!» Isabelle schlug ihm auf den Oberarm. «Der Junge ist gerade angekommen. Er soll sich wohlfühlen.»
«Sieh ihn dir an, Belle. Er verkraftet das.» Eine seiner Pranken landete auf Arts Schulter. «Ich mag dich!»
«Hm. Sehr schön.» Er strich die Hand von sich. «Ich find allein zurück, Isabelle.» Sie nickte, wirkte jedoch verloren, als wolle sie ihn nicht allein in einer Mordstätte lassen.
«Ich komm klar. Bis später.» Tira erschien im Vorraum, eine Schürze und ein weißes Haarnetz in den Händen.
«Magnus und du führt das Gespräch bei der Arbeit. Komm, ich zeig dir die Räume!» Er nahm ihr die Kleidung ab. «Ich bin gleich für dich da, Levi-Schatz.»
Levi winkte ab und schob die Hände wieder lässig in die Hosentaschen. «Kein Stress.» Das Schmunzeln blieb.