Seelennaht Leseprobe Kapitel 1

UNKORRIGIERTE & UNLEKTORIERTE LESEPROBE

Enthält SPOILER für diejenigen, die Band 2 noch nicht gelesen haben!

Kapitel 65


Überdenken. Grübeln. Was-Wäre-Wenn-Fragen beantworten – oder es zumindest versuchen. Denn eine richtige Antwort kommt nie dabei heraus, denn letztlich liegt alles, was hätte sein können, bereits in der Vergangenheit. All das war nichts weiter als selbst auferlegte Folter. 

Das Schlimme dabei war, dass Cilian wusste, dass er die Bremse ziehen müsste, aber er konnte nicht. Seit der Rückkehr aus dem Strawberry’s kreisten seine Gedanken um Vanjas Aussage. 

Miles und Edward. 

Edward und Miles. 

Aber ganz gleich, wie Cilian es drehte und wendete, er verstand nicht, wie die beiden zusammenpassten. Zumindest nicht auf einer Basis, bei der sie miteinander in einen Stripclub gingen und von anzugtragenden Gorillas begleitet wurden. 

Das leise Klicken eines auf dem Schieferuntersetzer abgesetzten Glases riss ihn aus seinen Gedanken. 

»Willst du drüber reden?«, fragte Grischa und zog die Hand langsam zurück.

Cilian ließ sich langsam gegen die Rückenlehne des Stuhls sinken, fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Ich … weiß es ehrlich gesagt nicht«, murmelte er und beobachtete seinen Freund, der ihm gegenüber am Küchentisch Platz nahm.

In seinem Kopf herrschte Chaos. Eines dieser Sorte, das man nicht bremsen und ordnen konnte. Hier musste er warten, bis der Sturm sich selbst legte, um hinterher Schadensbegrenzung zu betreiben. Dabei merkte er bereits jetzt, dass es etwas mit ihm machte. Seine Hände waren zittrig, seine Brust fühlte sich eng an und er spürte nicht nur jeden Herzschlag, er hörte ihn auch. Ein Echo in seinen Ohren, das normalerweise nicht da war. 

»Kann das ein Zufall gewesen sein?«, fragte Cilian, nur um im nächsten Moment zu begreifen, wie dumm diese Aussage war. 

»Einmal? Vielleicht«, gestand Grischa. »Aber zweimal? In Begleitung voneinander? Mit dem Wissen, was Miles dir angetan hat?« Der Redhead schüttelte den Kopf. »Das ist kein Zufall, Cilian. Und ich denke, der größte Fehler könnte es jetzt sein, dir genau das einzureden.« 

»Ja …«, flüstert er. Ihm war bewusst, dass er versuchte, eine Erklärung für etwas zu finden, für die es keine gab. 

»Edward weiß, dass Vanja dort arbeitet. Er weiß, dass er sich einem Risiko aussetzt, erkannt zu werden, wenn er dort mit solcher Begleitung erscheint.«

»Ich weiß …« Cilian suchte Grischas Blick, fixierte die unterschiedlich farbigen Augen des Russen. »Was soll ich jetzt machen?«

»Was willst du denn machen?«, folgte die Gegenfrage, auf die Cilian nur die Schultern hob. 

Das war der Punkt. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Es war ihm ein Rätsel, wie er sich Edward gegenüber verhalten sollte. Es ansprechen? Nein, das geht nicht. Denn wenn er eines wusste, dann, dass er Vanja damit in Teufels Küche bringen konnte. Etwas, das es aus seiner Sicht zu vermeiden galt. Vanja war Familie; war sein sicherer Hafen. 

»Ich hab keine Ahnung«, hauchte Cilian und presste die Lippen zusammen, als er bemerkte, dass sie zitterte. Mit einem Mal war da ein Druck in seinem Hals, der sich ausbreitete. Ein Kloß, der mit jedem Atemzug wuchs. Oder der Wasserspiegel in seinen Augen, der trotz des Blinzelns weiter stieg. 

»Oh shit«, hörte er den Älteren unterdrückt fluchen. Cilian vergrub das Gesicht in den Händen, bekam nur am Rande das Schaben von Stuhlbeinen mit. Das nächste, was er bemerkte, war, dass Grischa seinen Stuhl zurückzog. Finger fuhren durch sein Haar.

 

***

 

Cilian saß in seinem Büro. Wie immer. Er ging seiner Arbeit nach. Oder besser gesagt, tat er so, als würde er ihr nachgehen. Denn in Wahrheit jedoch starrte er seine Tür an. Er hatte sie geschlossen, mit der Erklärung, dass er einen wichtigen Anruf erwarte und deswegen nicht gestört werden wolle. Dabei fürchtete er bloß den Moment, in dem Edward ohne vorher klopfen zu müssen, in diesen Raum käme. 

Furcht. 

Ein Gefühl, dass er Edward gegenüber bisher nie empfunden hatte und glaubte, auch nie empfinden zu müssen. Und doch war er hier. Mit klopfenden Herzen, sobald er jemanden an der Tür vorbeigehen hörte. Die Angst in seinem Nacken fraß sich fest. Kalt und unbarmherzig. Er kannte diese Empfindung noch von früher. Wenn er nur darauf wartete, dass Miles einen weiteren Wutausbruch erlitt und Cilian das Ventil sein sollte. Oder später, als er allein wohnte und in jedem Knacken und Knarzen eine Bedrohung hörte. Er war in der ersten Zeit in seiner eigenen Wohnung bei jedem Scheppern einer Tür zusammengeflogen, oder wenn die Nachbarn lauter miteinander sprachen. All das triggerte Erinnerungen und Ängste, die Cilian sich mühsam hat abtrainieren müssen. Nur, um sie jetzt wieder in seinem Leben zu begrüßen. 

Etwas in ihm sagte ihm, dass das der Moment war, an dem er diese Zelte abbrechen müsste. Auch, wenn er nicht wusste, was Edwards Beweggründe waren, sich mit Miles sehen zu lassen, reichte die Tatsache, dass er ihn traf. 

Als sein Handy klingelte, flog er zusammen und schlug die Hand auf den Mund, als ein erschrockener Laut seine Lippen verließ. Mit großen Augen starrte er auf das Mobilgerät, das dort neben der Tastatur auf dem XXL-Mousepad ruhte. Da war kein Anruferbild und kein Name zu sehen, stattdessen stand »Unbekannter Anrufer« im Display. 

Cilians Hand flatterte, als er das Gerät in die Hand nahm und den Anruf entgegennahm. »Ja?«, meldete er sich. 

»Privyet, Cilian«, grüßte ihn eine tiefe Stimme. Ein Schauer rann über seinen Rücken, als er sie einer Person zuordnen konnte. Ilya. 

Cilian schluckte trocken, sagte nichts, sondern starrte seinen Monitor an. Nur eine Frage rauschte in Dauerschleife durch seinen Kopf. Was will er von mir? 

»Ich möchte, dass du deinem Chef mitteilst, dass du einen dringenden Außentermin hast«, sagte Ilya und das mit einem Ernst in den Worten, die eine Übelkeit in Cilian heraufbeschwor. 

»Warum?«, fragte er. 

»Ich möchte mit dir über ein paar Dinge sprechen, die ich herausfinden lassen habe und das ist besser, wenn du das nicht in deiner aktuellen Umgebung hörst.«

Seine Augen weiteten sich. In der aktuellen Umgebung. Heiß das, dass … Er presste die Lippen zusammen und legte die freie Hand über seine Augen. Für einen Moment gönnte er sich die Freiheit, die Infos sacken zu lassen. »Du meinst das Büro?«

»Da.«

»Ist Grischa da?«

»Net.«

Cilian atmete hörbar durch den Mund aus. »Wo bist du?«

»Ich warte neben deiner Luxus-Limousine.«

Den Seitenhieb ignorierte er. Stattdessen langte er nach der Maus und fuhr den Mac herunter. »Ich bin gleich da«, sagte er und legte auf. 

Seine Hände zitterten, waren eiskalt, als er das Handy in die Tasche schob, seine Kamera einpackte und nach seinem Schlüssel griff, bevor er das Büro verließ.

»Cilian, hast du …« Sie hielt inne.

Er blieb stehen und musterte Vaia. Sie stand mit einem Stapel Zettel da und sah ihn an. »Hm?«, machte er. 

»Hast du einen Moment oder musst du weg?«

Sein Blick schoss zu einer der vier Uhren, die hier im Büro verteilt an den Wänden hingen. Kurz kalkulierte er die Zeit, die er Grischas Schwager warten lassen konnte, dann seufzte er. »Was gibt’s?«, fragte er. 

Vaia lächelte und kam auf ihn zu. »Ich habe hier die vorläufige Ideensammlung der Kollegen.«

Cilian streckte die Hand aus, nahm die losen Notizzettel entgegen. »Ist Edward nicht da?«, hakte er nach. Denn die Ideensammlung ging immer erst an den Chef, dann an den Chefredakteur und dann in die Feinplanung. Daher überraschte es ihn, dass Vaia auf ihn zukam. 

»Er kam heute nichts ins Büro, hat Hanna nur kurz angerufen und mitgeteilt, dass er morgen wieder zu erreichen sei.«

Cilian zog die Stirn kraus. Das ist untypisch, dachte er, nickte dann aber. »Ok, legst du’s mir ins Büro? Ich bin grade echt auf dem Sprung.«

»Ja, sicher gern. Aber dann weiß du schon mal Bescheid.«

»Danke. Wir sehen uns dann später.« Er reichte ihr die Unterlagen zurück und sah dann zu, dass er möglichst schnell aus dem Gebäude entkam. 

Cilian fand den Weg zu seinem Golf 1 recht schnell und erkannte direkt daneben eine schwarze BMW Limousine mit ausländischem Kennzeichen. Der Motor wurde angelassen, als er sich dem Wagen von der Fahrerseite aus näherte. 

Das hintere Fenster wurde heruntergelassen. Cilian lehnte sich hinunter, sah ins Innere des Wagens. Ilya saß rechts auf der Rückbank, drehte das Smartphone in der Hand und hob die Brauen. 

»Steig ein«, folgte der Befehl. 

Cilian zögerte einen Moment, bevor er nach dem Griff langte und die Tür aufzog. »Wohin fahren wir?«, fragte er, als er einstieg und den Fensterheber betätigte. 

»Wir machen eine Spazierfahrt«, teilte Ilya ihm mit und wechselte dann die Sprache, um seinem Fahrer Anweisungen zu erteilen. 

Cilians Russisch bezog sich noch immer nur auf Bruchstücke und leichte Sätze, weshalb er nicht einmal ein Viertel von dem verstand, was Ilya sagte. 

Der Wagen fuhr langsam an und ehe er sich versah, befanden sie sich auf der Straße. Das ungute Gefühl in seinem Magen wuchs und Unsicherheit nagte an ihm. 

Er kannte Ilya nicht. In seiner Kindheit wurde ihm eingebläut, nicht zu Fremden ins Auto zu steigen. Ilya war nicht fremd. Aber er kannte ihn trotzdem nicht genug. Einzig das bisschen Hintergrundwissen, das Grischa ihm mitgegeben hatte, ließ Cilian überhaupt erst zusagen und einsteigen. 

Jemand von der Mafia, der enge Verbindungen zu seinem Freund hatte, konnte keine Gefahr für ihn sein. Richtig? Das war zumindest das, an dem Cilian festhalten wollte. Auch, wenn seine Hände feucht und kalt waren. Genau wie seine Füße. Dabei sollte man meinen, dass die Menge an Blut, die sein aufgeregtes Herz durch seinen Körper pumpte, auch die Extremitäten erreichen sollte. Oder? 

»Wem hast du deine Abwesenheit mitgeteilt?«

Aus seinen Gedanken gerissen schoss Cilians Blick zu Ilya. Der Kerl war wie aus dem Traummodelkatalog geschnitten. Bis auf die leichten Unebenheiten auf seiner Nase und der Narbe, die sich links über die Lippen zog, waren da keine Makel an diesem Gesicht zu sehen. 

»Einer Kollegin.«

Ein Lächeln hob die Mundwinkel und der stechende Blick des Russen grub sich in Cilians Augen. »Warum?«

»Weil … mein Chef nicht d- Warte!«, stieß er aus. »Du hast nicht – ihr habt nicht …«

Ilya hob die Hand. »Sht, sht«, machte er und schüttelte den Kopf. »Nein, wo denkst du denn hin?«

Mit einem Seufzen ließ sich Cilian tiefer in die Polster sinken, drückte die Tasche enger an sich, die er auf dem Schoß hielt. 

»Aber es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest.«

»Dinge?«, hakte er unsicher nach. »Dinge, die Grischa auch weiß?«

Ilya blieb für eine Weile stumm, spielte mit seinem Smartphone und sah aus der getönten Scheibe hinaus. Cilian erkannte die Spiegelung des jungen Mannes, beobachtete, wie dieser die Stirn kraus zog, die Nase rümpfte. Alles an seinem Sitznachbar schrie Anspannung. Und das ließ mehr Nervosität in Cilian aufblühen. Es war eine Sache mit einem Mafia-Boss in einem Auto zu sitzen und in besagtem sauteuren Gefährt durch die Stadt zu tingeln – mit einem Fahrer, wohlgemerkt. Aber es war etwas vollkommen anderes, wenn besagter Mafia-Boss nichts sagte. 

Er kannte Ilya nicht gut genug, um die richtigen Schlüsse aus dessen Mimik ziehen zu können. Auch nicht aus der Haltung oder dem generellen Verhalten des Russen. Aber er konnte die Atmosphäre lesen und die kühlte mit jeder verstreichenden Sekunde weiter ab. 

»Weiß Grischa das, was du mir gleich sagen wirst?«, hakte Cilian nach, spielte mit einem losen Faden seiner Tasche. 

Ilya murmelte etwas auf Russisch, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lider. 

»Grischa wird dir genug gesagt haben, dass du nicht ausrastest.«

»Das eine oder andere, ja«, stimmte Cilian zu und ließ seinen Blick über Ilyas Gesicht gleiten. Zum wiederholten Male an diesem Mittag. »Ich weiß, dass dein Bruder tot ist – erschossen in einem Rohbau. Ich weiß, dass seine Schwester bei Gemmas Geburt verstarb. Auch, dass Jurij und Alessia ihm das Paray hinterließen und einen Haufen Kohle, die er nicht anrührt. Ich weiß, dass deine Familie nicht ganz legale Schienen fährt in deinem Heimatland und scheinbar auch … hier«, erklärte er. »Aber er ist nicht ins Detail gegangen. Wofür ich dankbar bin, denn alles, was ich nicht weiß, kann mir nicht zum Verhängnis werden.«

Denn, egal wie sehr man versuchte, losgelöst von Klischees und Stereotypen zu leben, so sehr hingen sie einem doch dann und wann nach. Und die Tatsache, dass Menschen schnell zu Sicherheitslücken wurden, hatte er aus genug Dokus und Spielfilmen mitgenommen. Er wollte nicht sein Leben lang gekämpft haben, um dann als Fischfutter in der Elbe zu enden. 

»Clever.«

»Danke«, antwortete er und vernahm das tiefe Seufzen des Mafiosis neben sich. 

»Was weißt du von Edward Schneider?«

»Er ist älter als ich, verheiratet seit vier, bald fünf Jahren mit Charlotte, seiner langjährigen Lebensgefährtin. Sie macht so Börsensachen, keine Ahnung. Ich habe ihn in New York kennengelernt, da er dort, wo ich arbeitete, einen Freund besuchte. Wir lernten uns kennen, freundeten uns an und er unterbreitete mir den Job bei FameYou.«

»Mehr nicht?«

»Er mag Mercedes lieber als BMW, hat einen leichten Hang zum Rassismus, den er gern mit Humor überspielt, er mag teure Klamotten, die sich ein kleiner Angestellter wie ich niemals leisten könnte. Er mag klassische Musik, Ordnung und Glastische.«

»Das ist eine sehr sporadische Auflistung von wenig persönlichen Attributen, Cilian.«

»Soll ich dir meinen Chef für eine Dating-App beschreiben, oder was willst du von mir?«

»Tz«, machte der andere nur und in diesem Moment erinnerte ihn Ilyas Verhalten an das von Grischa. Wenn der Redhead von einem Thema angenervt war oder nicht weiter antworten wollte, kam auch das »Tz« von seinem Freund. Als wäre es das Ende einer unliebsamen Konversation. Mit dem Unterschied, dass er das Gefühl nicht loswurde, dass es sich hier anders verhielt. 

»Was meinst du, verdient ein Geschäftsführer eines kleinen Modemagazins wie dem euren?«

»Weiß ich nicht. Wir reden nicht über Geld.«

»Etwas über 100.000 Euro sollten es laut seiner Stellenbeschreibung sein.«

»Er ist Geschäftsführer, Ilya.«

Ein humorloses Lachen kam von dem anderen. »Er ist alles, nur nicht das, Cilian.«

»Wa-«

»Er ist Chief Creative Director für FameYou Hamburg. Genau, wie es jemanden in Berlin und einen in München gibt. Und wo noch dieses kleine Blatt überall erscheint. Er ist dem Geschäftsführer unterstellt und das ist, wenn man einen Blick ins FameYou Impressum wirft, Geralt Novokov, mit Sitz in Deutschlands Hauptstadt im Haupthaus von FameYou.«

»Das …«

»Ergibt keinen Sinn? Richtig, weil es überall steht, dass unser lieber Edward ein Geschäftsführer ist. Was mich zurück zu dem Punkt bringt: Woher das Geld nehmen, wenn nicht stehlen? Armani? Teuer. Chanel? Teuer, teuer.«

Cilian klinkte sich aus der Erklärung aus. Sein Kopf schwirrte. Nichts von dem, was er zu wissen glaubte, ergab einen Sinn. Nichts von alledem, was er je von Edward gehört hatte, war die Wahrheit?

Erst Miles und Edward. Jetzt Edward und … ja, was? Die Lügen? Die Halbwahrheiten?

»Du verstehst, worauf ich hinaus will?«

»Ja«, hauchte Cilian. »Aber was heißt das jetzt?«

»Mein lieber Schwager hat mich um einen Gefallen gebeten«, Ilya legte seine Hand aufs Herz, »und ich bin dafür bekannt, für Familie alles zu tun.«

»Und?«, hakte er vorsichtig nach. »Was bedeutet das jetzt?«

Ilyas Blick glitt über ihn. Langsam. Prüfend. Suchend, vor allem. Als würde er auf jede noch so kleine Veränderung achten wollen. Nur sorgte das nicht dafür, dass sich Cilian besser fühlte. Eher flutete mehr Panik seinen Körper, ließ ihn zittern und frieren und schwitzen – alles gleichzeitig. Kopfschmerzen krochen vom Nacken her auf, verursacht von seiner verspannten, steifen Haltung. 

Ilya griff in die Innentasche seines mitternachtsblauen Jacketts und hielt ihm wenig später eine schwarze Visitenkarte vor die Nase. 

»Was ist das?« 

»Dein neuer Anwalt«, sagte Ilya, als Cilian nach der Karte griff. 

»Den brauch ich nicht.«

»Doch. Brauchst du«, hielt der andere dagegen. »Weil deiner einen Scheiß für dich gemacht hat.«

»Helmut hat …«

»Nicht einen Brief geschickt, nicht einen Anruf getätigt. Nicht, seitdem du ihm von Miles Bergers ersten erneuten Auftauchen in deiner Gegenwart berichtet hast«, fiel ihm Ilya ins Wort. 

Die Karte fiel aus Cilians Fingern und er starrte seinen Sitznachbarn an. Sprachlos. In seinem Kopf herrschte mit einem Schlag eine Leere, die er nicht kannte. Es war ein alles verschlingendes, schwarzes Loch. Jeder Gedanke glitt hinein und verschwand in der unendlichen Finsternis. Einzig das Echo seines Herzens war hörbar und hallte in dem Raum endlos wieder. 

»Nicht einen Finger hat er krumm gemacht.«

»Aber- I-« Cilian biss die Zähne zusammen, kämpfte den Drang zu schreien und zu weinen und zu fluchen herunter. Denn was würde es ihm bringen?

»Helmut ist Edwards Anwalt. Er ist Edwards Freund«, fuhr Ilya fort. »Und du hättest dir einen eigenen Anwalt nehmen können, stattdessen schiebt Edward dich zu seinem Rechtsverdreher, schon merkwürdig.«

»Damals war es … das nicht«, hielt er schwach dagegen und schob seine Hände hinter die Tasche, um das Flattern zu verbergen. Ganz gleich, ob es Ilya bereis aufgefallen war oder nicht. »Damals hätte ich mir keinen eigenen nehmen können, weil ich nicht in der Lage war, das allein zu managen.«

Ilya schnalzte. »Gut, dass du jetzt uns hast.«

»Uns«, wiederholte Cilian. »Euch?«

»Ich kann nicht sagen, dass ich sonderlich begeistert bin von Grischas Lebensstil. Aber es ist sein Leben. Nur zeigt es auch, dass er niemals von uns loskommt. Und deswegen, Cilian, bist du Familie. Du bist seins. Also bist du meins. Und damit ist dein Problem mein Problem.« 

»Ich will dir nichts schuldig sein«, sagte Cilian. Er wusste, was das mit Menschen machte. Sei es eine finanzielle oder emotionale Schuld oder Abhängigkeit. Nichts davon wollte er jemals wieder haben. Trotzdem saß er in diesem Auto. Unterhielt sich mit diesem Mann – einem Kriminellen, dessen Strafakte wahrscheinlich länger war als alles, was Cilian jetzt im Moment als Vergleich vorbringen konnte. 

»Betrachte diese Schuld als beglichen.«

Hertzog sah auf die Karte, die zwischen ihnen auf den schwarzen Lederpolstern lag. Das Logo und der Druck allein war so hochwertig, dass er sich nicht vorstellen wollte, was dieser Mann als Honorar aufrufen würde. 

»Um Geld mach dir keine Gedanken.«

»Aber-«

»Betrachte es als beglichen«, schnitt Ilya ihm ins Wort. »Ruf bei ihm an. Emir wird schnell einen Termin für dich haben. Vlad kann dich begleiten, wenn du magst.«

Cilian schüttelte den Kopf, bevor er die Visitenkarte aufnahm. »Ich werde das allein machen«, murmelte er und schob sie in seine Tasche. »Ist das alles? Oder …« Er hielt inne, fragte sich, ob er das Thema wirklich ansprechen wollte oder ob es warten müsste. Doch wusste er, dass es ihm keine Ruhe ließe. Er würde ständig daran denken und dass er Edward heute nicht sehen musste, half etwas. Cilian wusste nicht, ob er in der Lage gewesen wäre, ihm heute, nur zwei Tage nach Vanjas Mitteilung, ganz normal gegenüberzutreten. 

»Oder?«

»Die Sache mit Edward und«, setzte er an, heftete seinen Blick an den Fahrersitz vor sich und rang mit den Worten, »Miles Berger. Wie lange kennen die sich?«

Er schielte zur Seite, als Ilya sich Zeit mit der Antwort ließ. 

»Wie lange kennst du ihn?«

»Zehn … Jahre«, antwortete Cilian. »Warum?«

»Ich versuche abzuwägen, ob du die Antwort hören willst.«

»Ilya«, bat er, »bitte. Schlimmer kann es nicht mehr werden!«

Der Russe entsperrte sein Handy, rief wahrscheinlich die Notizen auf. »Sie kennen sich seit zwölf Jahren, Cilian.«